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Mr» Peter Scherk
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GILGAMESCH
Eine Erzählung
aus dem alten Orient
Zu einem Ganzen gestaltet
von
Georg E. Burckhardt
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Im Insel-Verlag zu Leipzig
ai.— 3o, Tausend
Die erste Tafel
Alles sah er, der Herr des Landes. Jeden lernte er
L kennen und eines jeden Können und Werk, alles
verstand er. Er durchschaute der Leute Leben und
Treiben.
Er brachte geheime, verborgene Dinge ans Licht.
Der Weisheit Abgrundtiefe ward ihm offenbar. Aus
der Zeit vor der großen Sturmflut brachte er Kunde.
Einen weiten Weg in die Ferne ging er. Leidensvoll
war die lange Wandrung und beschwerlich die Fahrt.
In Keilen Heß schreiben der Dulder die ganze Müh-
sal. In harten Stein wurden Taten und Leiden alle ge-
meißelt.
Gilgamesch, der siegreiche Held, baute die Mauer
um Uruk. Hoch wie ein Berg erhebt sich der heilige
Tempel in der umfriedigten Stadt. Fest wie Erz liegt
der aufgeschüttete Grund. Unter dem Schutz des er-
habenen Hauses, in dem der Himmelsgott wohnt, dehnt
sich weit der Kornspeicher der Stadt, das prächtige
Vorratshaus. Leuchtend weiß erstrahlt des Königs
Palast im Licht. Späher stehen den ganzen Tag auf der
Mauer, auch des Nachts wachen die Mannen.
Ein Drittel ist Mensch in Gilgamesch, zwei Drittel ist
Gott. Voll Staunen und Furcht schauen die Bürger
das Bild seines Leibes, nie seinesgleichen sah man an
Schönheit und Fülle der Kraft. Den Löwen scheucht
er aus seinem Versteck, packt ihn am Bart und ersticht
ihn. Den Wildstier erjagt er mit seines Bogens Schnelle
und Wucht» In der Stadt ist sein Wort und Spruch
das Gesetz. Mehr als des Vaters Wunsch gilt für dtn
203 o
Sohn der Wille des Königs. Kaum ist der Sohn ein
Mann, so steht er im Dienste des großen Hirten, als
Krieger und Jäger, Hüter der Herden, Bauaufseher und
Schreiber, oder als Diener des heiligen Tempels.
Gilgamesch ist nicht müde, der Weh-Froh-Mensch.
Arbeiten müssen für ihn, den Starken, Herrlichen, Weis-
heitskundigen, jung und alt, die Gewaltigen und die
Geringen. Uruks Pracht soll strahlen vor allen Städten
der Länder.
Gilgamesch läßt nicht die Buhle zu ihrem Geliebten,
nicht die Tochter eines Gewaltigen zu ihrem Helden.
Ihr Wehklagen stieg empor zu den großen Göttern,
den Göttern des Himmels, den Herren des heiligen
Uruk:
„Ihr habt geschaffen den mächtigen Wildstier und
den bärtigen Löwen; Gilgamesch, unser Fürst, ist stär-
ker als sie. Seinesgleichen findet ihr nicht, allzu stark
ist er über uns. Nicht läßt er die Buhle zu ihrem Ge-
liebten, nicht die Tochter des Helden zu ihrem Manne."
Ihr Klagen hörte der Himmelsgott Anu. Er rief
Aruru, die große, des Formens kundige Göttin:
„Du, Aruru, hast Menschen und Tiere geschaffen,
gemeinsam mit Marduk, dem Helden. Schaff nun ein
Bild, das dem Gilgamesch gleich sei, ein Wesen, das
stark sei wie er, doch nicht nur ein Tier der Wüste.
Zu seiner Zeit soll dieser Gewaltige kommen nach Uruk..
Wetteifern soll er mit Gilgamesch; Ruhe habe dann
Uruk!"
Als Aruru dies hörte, schuf sie in ihren Gedanken
ein Wesen, wie der Himmelsgott Anu es wünschte. Sie
wusch sich die Hände, kniff Lehm ab und feuchtete
ihn mit muttergöttlichem Speichel. Sie formte Enkidu,
schuf einen Helden, belebt vom Hauch und Blut des
streitbaren Kriegsgottes Ninib.
Nun steht er da, am ganzen Körper behaart, allein
in der Steppe. Wie beim Weibe wallt sein Haupthaar
herab. Wie Weizen streckt sich sein Haar. ^Uchtsweiß
er von Land und Leuten. Mit Fellen ist er bekleidet
wie Sumukan, der Gott der Fluren und Herden. Mit
den Gazellen zusammen ißt er die Kräuter des Feldes.
Mit dem Vieh trinkt er an der gemeinsamen Tränke.
Mit dem Gewimmel des W^assers tummelt er sich in
der Flut.
Fangnetze hatte ein Jäger gelegt an selbiger Tränke.
Enkidu stellt sich entgegen dem Mann (er kommt zu
tränken sein Vieh). Einen Tag, einen zweiten und
dritten Tag steht drohend Enkidu da, vor der Tränke.
Es sieht ihn der Jäger; lang starrt sein Gesicht. Er
zieht ab mit dem Vieh zurück ins Gehöft. Zornig wird
er, verstört und finstern Blickes schreit er vor Wut.
Weh erfaßte sein Herz, denn er fürchtete sich: jener
sah aus wie ein Unhold der Berge!
Der Jäger erhebt seine Stimme und sagt seinem Vater :
„Vater, ein Mann ist fernher vom Gebirge gekom-
men, wie Anus Sproß sieht er aus. Gewaltig ist seine
Kraft, er treibt sich herum auf der Steppe beständig.
Mit den Tieren zusammen steht er an unserer Tränke.
Furchtbar ist seine Gestalt, ich mag ihm nicht nahen.
Verschüttet hat er die Fanggrube, die ich gegraben,
zerstört die Fallen, die ich gelegt. So ließ er entkom-
men all das Getier des Feldes aus meinen Händen."
Der Vater sagt zum Sohne, dem Jäger:
„Geh nach Uruk hinein zu Gilgamesch. Sprich von
der unbezähmbaren Kraft des wilden Gesellen. Erbitte
dir ein blühendes Weib, das sich Ischtar, der Liebes-
göttin, geweiht, und führe sie mit dir hinaus. Zieht das
Vieh zur Tränke, so werfe sie ab ihr Gewand, damit
ihre Fülle er nehme. Wird er sie sehen, so wird er ihr
nahen. Also wird er entfremdet werden dem Vieh, das
mit ihm wuchs auf dem Felde."
Der Jäger hörte das Wort des Vaters und ging davon.
Er machte sich auf den Weg nach Uruk, trat zum Tore
hinein, kam zur Pforte des Königs und fiel vor ihm
nieder. Dann erhob er die Hand und sprach zu Gilga-
mesch also:
„Ein Mann ist fern vom Gebirge gekommen, seine
Kräfte sind stark wie die Heerschar des himmlischen
Gottes. Seine Macht ist groß in der ganzen Steppe, er
treibt sich umher auf dem Felde beständig. Seine Füße
sind stets mit dem Vieh vor der Tränke. Furchtbar ist
er zu schauen, ich mag ihm nicht nahen. Er hindert
mich. Gruben zu graben, Netze zu legen. Fallen zu
stellen. Gefüllt hat er meine Grube, zerrissen die Netze,
zerstört meine Fallen. Meinen Händen läßt er entkom-
men das Tier meines Feldes."
Gilgamesch sagte zu ihm, dem Jäger:
„Geh nur, mein Jäger, nimm mit dir ein blühendes
Weib aus Ischtars heiligem Tempel. Führe sie hin zu
ihm. Wenn er kommt mit den Tieren zur Tränke,
werfe sie ab ihr Gewand, damit ihre Fülle er nehme.
Wird er sie sehen, so wird er ihr nahen. Also wird er
entfremdet werden dem Vieh, das mit ihm wuchs auf
dem Felde."
Sein Wort vernahm der Jäger und ging. Er holte
ein blühendes Weib aus dem Tempel der Ischtar. Sie
machten sich auf den Weg und trieben das Maultier
die kürzeste Strecke. Am dritten Tage kamen sie an
und fanden sich ein auf dem Feld der Bestimmung.
Jäger und Weib lassen sich nieder nicht fern von der
Tränke. Einen Tag, einen zweiten Tag lagerten sie an
selbiger Stelle. Es kommt das Vieh und trinkt an der
Tränke. . Die Wassertiere tummeln sich in der Flut. Da
ist auch er, Enkidu, des himmlischen Gottes gewaltiger
Sproß. Mit den Gazellen ißt er die Kräuter, mit dem
Vieh schlürft er gemeinsam das Wasser. Munter tum-
melt er sich mit dem Gewimmel der Flut.
Es sah ihn das heilige Weib, den Menschen voll
Kraft, den wilden Gesellen, den Mann vom Gebirge.
Er schreitet über das Feld, spähet umher, kommt näher.
„Da ist er, Weib! Löse das Tuch deines Busens,
enthülle den Hügel der Freude, damit deine Fülle er
nehme! Warte nicht länger, nimm wahr seine Lust!
Wird er dich sehen, so wird er dir nahen. Begierde
errege in ihm, lock ihn ins Fangwerk des Weibes!
Fremd wird ihm werden sein Vieh, das mit ihm wuchs
auf dem Felde. Seine Brust wird fest auf dir ruhen."
Da löste das Weib das Tuch ihres Busens, enthüllte
den Hügel der Freude, damit ihre Fülle er nehme. Sie
zögerte nicht, nahm wahr seine Lust. Hin sank das Ge-
wand, er sah sie und warf sie zu Boden. Begierde er-
regte sie ihm, das Fangwerk des Weibes. Fest ruht
seine Brust auf der heiligen Dienerin Gottes.
Sie waren allein. Sechs Tage und sieben Nächte
erkannte Enkidu das Weib, vereinte sich ihr in der
Liebe.
Von ihrer Schönheit Fülle gesättigt, erhob Enkidu
sein Antlitz und blickte umher auf der Steppe. Er späht
nach den Tieren. Kaum sehen sie ihn, da jagen im
Sprung die Gazellen davon. Die Tiere des Feldes
scheuen vor ihm zurück.
Staunen ergriff Enkidu. Still stand er wie angebun-
den. Er wendet sich um zum Weibe und setzt sich zu
ihren Füßen. Er blickt ihr ins Auge, und wie sie nun
spricht, da horchen auf seine Ohren:
„Enkidu, schön bist du, wie ein Gott bist du ! Warum
willst du mit wildem Getier hinjagen über die Felder?
Komm mit mir nach Uruk, in die umfriedigte Stadt.
Komm zum heiligen Tempel, der Wohnung Anus und
Ischtars! Komm zu dem strahlenden Hause, wo Gilga-
mesch wohnt, der vollkommene Held. Wie ein Wild-
stier an Kraft waltet er mächtig; nicht seinesgleichen
findest du unter dem Volk."
Also sagt sie, und er freut sich, solches zu hören.
Enkidu spricht zu ihr, der Dienerin Ischtars:
„Auf, mein Weib ! Führe mich hin zur heiligen Woh-
nung Anus und Ischtars, dahin, wo Gilgamesch weilt,
der vollkommene Held, wo er waltet, ein Wildstier,
gewaltig unter den Männern! Zum Kampfe will ich
ihn fordern, mit lauter Stimme will ich den Starken
rufen, ich werde verkünden mitten in Uruk: ,Ich
selbst bin ein Starker!' So tret ich hinein und andre
das Schicksal; ich bin auf der Steppe geboren, Kraft
ist in meinen Gliedern! Mit eignen Augen sollst
du schaun, was ich tue; wie alles kommen wird,
weiß ich."
Das Weib und Enkidu gehen zur Stadt und schreiten
durchs Tor. Bunte Teppiche sind auf den Straßen ge-
breitet. In weißen Kleidern, die Binde ums Haupt,
gehen die Menschen einher. Harfen klingen von ferne,
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es tönen die Flöten. Ein Fest wird gefeiert bei Tag
und bei Nacht. Schön gestaltete Mädchen tanzen vor-
bei, Fülle des Lebens in allen Gliedern. Jauchzend
stören sie auf die Helden aus ihrem Gemach.
Das heilige Weib schreitet voran in den Tempel der
Ischtar. Aus der Kammer des Heiligtums nimmt sie ein
Festgewand. Sie schmückt mit dem prächtigen Kleid
Enkidu, stärkt ihn mit Brot und Wein vom Altare der
Göttin. Eine Geweihte naht, eine Seherin, und spricht
zu ihm also:
„Enkidu, die großen Götter mögen dir langes Leben
verleihen! Den Weh-Froh-Menschen Gilgamesch will
ich dir zeigen: du sollst ihn erblicken und schaun sein
Gesicht: wie die Sonne erstrahlt sein Auge. Von
Muskeln hart wie Erz strotzt seine hohe Gestalt. Sein
Leib hält gebändigt die überschüssige Kraft. Nicht ist
er müde bei Tag und bei Nacht. Furcht erregt er wie
Adad, der Gott des Gewitters. Schamasch, der Sonnen-
gott, ist dem Gilgamesch gnädig, Ea, der Gott der Tiefe,
machte ihn klug. Die göttliche Dreiheit erkor ihn zum
Herrscher und machte hell seinen Sinn. Ehe du kamst
vom Gebirge herab und hervor aus der Steppe, ahnte
dich Gilgamesch schon. Ein Traumbild ward ihm in
Uruk. Er erhob sich vom Schlaf, erzählte den Traum
und sprach zu der Mutter:
,Mutter, in dieser Nacht schaute ich seltsamen
Traum. Die Sterne standen am Himmel. Da fielen
Sterne wie blinkende Krieger auf mich herab. Die
Heerschar war wie ein Mann; ich suchte ihn hochzu-
heben, doch er war mir zu schwer. Ich suchte ihn los-
zureißen, doch könnt ich ihn nicht bewegen. Die Völ-
ker von Uruk standen davor und sahen das Schauspiel.
Die Leute beugten sich hin zu ihm und küßten ihm
seine Füße. Da preßte ich ihn wie ein Weib, bracht
ihn herum, daß ich über ihm lag, und warf ihn zu deinen
Füßen. Du nahmst ihn zum Sohn und stelltest ihn mir
als Bruder zur Seite.*
Rischat, die Herrin und Mutter, weiß Träume zu
deuten und kündete also dem Sohne, dem Fürsten:
,Wenn du sahst die Sterne am Himmel, wenn eine
Heerschar Anus auf dich herabfiel wie ein Mann, du
ihn zu heben versuchtest - zu schwer war er dir, -
du ihn abzuschütteln suchtest — du konntest es nicht, -
dann dich auf ihn preßtest wie auf ein Weib und ihn
zu Füßen mir warfst, ich zum Sohn ihn erklärte, so
bedeutet dies: Es wird kommen ein Starker; wie eine
Kriegerschar gewaltig sind seine Kräfte. Zum Kampfe
wird er dich fordern, ringen mit dir. Deine Hand wird
über ihm sein, liegen wird er zu meinen Füßen. Ich
nehme ihn an zum Sohne, er wird dein Bruder. Dein
Genosse im Streit, dein Freund wird er sein.'
Enkidu, siehe, das ist der Traum und die Deutung
der Herrin und Mutter."
Also sprach die Geweihte, die Seherin, und Enkidu
verläßt das erhabene Flaus der Ischtar.
Die zweite Tafel .
U* * ber die Schwelle des Tempels schreitet Enkidu und
tritt auf die Straße. Staunen ergreift die Menge,
als sie den Mann der Steppe erblickt. Sein gewaltiger
Leib überragt alle Großen der Stadt. Bart und Haupt-
haar wallen ihm lang herab. „Ein Held aus den Bergen
Anus kam in die Stadt!" Den Helden von Uruk ver-
10
sperrt er den Weg zum heiligen Hause. Gegen ihn
rücken die Mannen (alle sind sie versammelt), doch
sein drohender Blick bannt sie zurück. Vor der Wun-
dererscheinung beugt sich das Volk, es fällt ihm zu
Füßen, furchtet sich wie ein Kind.
Dem Gilgamesch ist im Tempel wie einem Gotte
das Teppichlager bereitet, daß sich der König mit
Ischtar selbst, der fruchtbaren Göttin, vereine. Gilga-
mesch kommt aus seinem Palaste und naht. Enkidu
steht an der hohen Pforte des Tempels, hindert, daß
Gilgamesch trete hinein. Wie zwei Ringer packen sie
sich am Tor des heiligen Hauses. Auf der Straße
kämpfen sie weiter. Wie eine Heerschar Hegt Enkidu
über dem Hirten des Landes. Da preßt dieser ihn
wie ein W^eib, bringt ihn herum, daß er über ihm liegt.
Er hebt ihn empor und wirft ihn vor die Füße der
Mutter. Ehrfürchtig staunt das Volk über des Gilga-
mesch Kraft.
Enkidu schreit auf in verzweifelter Wut. Wirr und
aufgelöst ist das Haar des mächtigen Hauptes. (Er
kam von der Steppe, so kannte er weder Schere noch
Schabe.) Enkidu richtet sich auf, erblickt seinen Geg-
ner. Finster wird sein Gesicht und düster sein Antlitz.
Die Hände sinken an den ermatteten Hüften: Tränen
erfüllen sein Auge.
Rischat, die Mutter und Herrin, ergreift seine
Hände:
„Du bist mein Sohn, heute habe ich dich geboren.
Deine Mutter bin ich, und dieser da ist dein Bruder."
Enkidu tat seinen Mund auf und spricht zu Rischat,
der Herrin:
„Mutter, ich habe im Kampfe den Bruder gefunden."
II
Gilgamcsch sagt zu ihm:
„Du bist mein Freund. Nun streite an meiner Seite !"
Um die Zedern im fernen Walde der Götter zu
scliützen, hatte der Bei einen Wächter gesetzt zum
Schrecken der Leute: Chumbaba, - seine Stimme ist
gleich dem heulenden Sturme, sein Mund läßt die
Bäume rauschen, furchtbar ertönt sein Schnauben. Ein
jeder, der hingeht zum Zederngebirge, fürchtet den
grimmigen Hüter des Waldes. Wer immer dem hei-
ligen Forste naht, zittert am ganzen Leibe.
Gilgamesch sprach zu Enkidu:
„Chumbaba, der Hüter des Zedernwaldes, frevelte ge-
gen Schamasch, den Richter der Geister und Menschen.
Zum Wächter der heiligen Zeder bestellt, achtet er keine
Grenze, kommt aus dem Walde hervor zum Schrecken
der Leute. Wie der heulende Sturm läßt er die Bäume
rauschen. Jeden erschlägt er, der immer dem Walde
naht. Auch den Starken wirft seine Hand zu Boden.
Mein Herz verlangt, den Schrecklichen aufzusuchen
und zu bezwingen. Freund, wir wollen nicht müßig
ruhen in Uruk, nicht Kinder zeugen in Ischtars Tempel,
wir wollen zu Abenteuern und Heldentaten hinausgehn.
Mit dir jage ich wieder hinaus in die Steppe."
Enkidu spricht zum Freunde, zu Gilgamesch:
„Furchtbar scheint Chumbaba zu sein, zu dem wir
gehen. Chumbaba, sagst du, ist von gewaltiger Kraft.
Und wir sollen ziehen und gegen ihn streiten?"
Gilgamesch spricht zu ihm, zu Enkidu:
„Freund, zusammen gehen wir zu der heiligen Zeder,
zusammen streiten wir gegen Chumbaba und erschla-
gen den Feind der Götter und Menschen!"
13
Die dritte Tafel
Enkidu zieht ein in die glänzende Halle des Königs.
Sein Herz ist bedrängt und flattert wie ein Vogel
des Himmels. Nach der Steppe verlangt er und nach
den Tieren des Feldes. Laut klagt er sein Leid und läßt
sich nicht halten, eilt wieder hinaus aus der Stadt in
die Wildnis.
Gilgamesch ist betrübt; der Freund ging hinweg.
Gilgamesch macht sich auf, versammelt des Volkes
Älteste, erhebt seine Hand und spricht zu den Edlen:
„Hört nur, ihr Männer, und richtet die Augen auf
mich! Ich, ich trage Leid um Enkidu, ich, ich weine
Enkidus wegen. Wie ein Klageweib erhebe ich laut
die trauernde Stimme. Die Streitaxt an meiner Seite,
das Wurfholz in meiner Hand, das Schwert im Gürtel,
der Augen Freude, das Festgewand, das die Fülle der
Kraft mir umwallt, - was soll es mir? Ein Dämon hat
sich erhoben und alle Freude vergällt. Fort ist Enkidu,
mein Freund; draußen ist er unter den Tieren des
Feldes. Er verwünscht das heilige Weib, das ihn ver-
führte, und fleht zum Sonnengotte Schamasch. Auf
bunten Teppichen sollte er ruhen, wohnen in einem
Palast mir zur Linken. Die Großen der Erde sollten die
Füße ihm küssen, alle Menschen sollten ihm dienen. Das
ganze Volk will ich trauern lassen um ihn. Trauerkleider,
zerrissen, bestaubt, sollen die Leute tragen. Mit dem
Löwenfelle bekleidet, werde ich jagen über das Feld,
in die Steppe hinaus, ihn zu suchen."
Enkidu steht mit erhobener Hand allein in der Steppe.
Er verwünscht den Jäger, fleht zu Schamasch und ruft;
13
„Schamasch, richte des Jägers verruchte Tat! Seinen
Reichtum vernichte, nimm weg seine Manneskraft!
Alle Dämonen mögen ihn quälen, Schlangen mögen
vor seinem furchtsamen Tritte hervorgehn!"
Also verwünscht er den Jäger; es quillt sein Wort
aus der Fülle des Herzens. Dann treibt es ihn, das ver-
lockende Weib zu verfluchen:
„Ich will dir, Weib, dein Schicksal bestimmen, es
soll kein Ende nehmen all deine Lebenstage. Meine
Verwünschungen sollen stehn über deinem Haupte!
Die Straße sei deine Wohnung, hausen sollst du im
Winkel der Mauer. Immer seien müde und wund dir
die Füße. Bettler, verworfene, ausgestoßene Leute
werden auf deine Wangen dich schlagen. - Hunger
leide ich nun, und Durst peinigt mich. Weil du die
Lust in mir wecktest, wollte ich wissen und wurde
entfremdet den Tieren. Weil du mich von meinem
Felde führtest hinweg in die Stadt, darum seist du ver-
flucht!"
Das Wort seines Mundes hörte Schamasch, der Gott
der glühenden Sonne des Mittags.
„Enkidu, Panther der Steppe, warum verfluchst du
das heilige Weib ? Sie gab dir Speise vom Tisch der
Göttin, wie nur der Gott sie bekommt, sie gab dir
Wein zu trinken, wie nur der König bekommt. Sie
gab dir das Festgewand und den Gürtel. Den herr-
lichen Gilgamesch verschaffte sie dir zum Freund. Der
große Gilgamesch ist dein Freund! Auf bunten Tep-
pichen läßt er dich ruhen, du sollst zur Linken ihm
wohnen im strahlenden Hause. Dir küssen die Füße
die Großen des Landes, alle Männer läßt er dir dienen.
In Uruk, der Stadt, trauern die Leute um dich; zer-
M
rissene Kleider, mit Staub bedeckt, tragen die Men-
schen. Gilgamesch wirft sich das Löwenfell um und
eilt dahin über das Feld. Er kommt in die Steppe hin-
aus, dich zu suchen."
Enkidu hörte das Wort des starken Gottes Scha-
masch. Vor dem Herrn seinem Gott beruhigte er sein
Herz.
Eine Wolke von Staub glänzt auf in der Ferne.
Schamasch läßt sie in weißem Lichte erstrahlen. Gil-
gamesch kommt, sein Löwenfell schimmert wie Gold.
Enkidu kehret zurück mit dem Freund in die Stadt.
Neue Schmerzen ergreifen Enkidus Herz. Seinem
Freunde erzählt er, was ihn bedrückt:
„Schwere Träume, mein Freund, schaute ich diese
Nacht. Es brüllte der Himmel, Antwort bebte die
Erde. Einem Starken stelle ich mich allein. Wie die
Nacht war düster sein Antlitz, glotzend quoll das Auge
hervor. Er sah aus wie ein scheußlicher, zähnefletschen-
der Wüstenhund. Wie ein Geier hatte er mächtige
Flügel und Krallen. Er packte mich fest, warf mich
in einen Abgrund, ließ mich untertauchen in furcht-
bare Tiefe. Wie Bergesschwere lag es auf mir. Wie
ein massiger Felsen erschien mir die Last meines Leibes.
Er verwandelte dann meine Gestalt und machte vogel-
gleich meine Arme:
jFliege nun tiefer hinab, tiefer hinab in die Woh-
nung der Finsternis, zu der Behausung Irkallas. Steige
hinab in die Wohnung, aus der nicht wieder hinaus-
gehn, die sie betreten. Geh hinab den Weg, den man
nie zurückgeht, dessen Bahn sich nicht wendet nach
rechts oder links! Tritt ein in das Haus, dessen Leute
15
das Licht entbehren! Erdstaub ist ihre Nahrung und
Lehm ihre Speise. Bekleidet sind sie mit Flügeln und
Federn wie Fledermäuse und Eulen. Das Licht sehen
sie nicht, in Dunkelheit wohnen sie.*
In die Behausung tief unter der Erde trat ich nun
ein. Da sind die Königsmützen von den Köpfen ge-
rissen, sind niedergebeugt, die auf Thronen saßen und
seit der Vorzeit Tagen das Land beherrschten. In dem
Hause der Finsternis, in das ich hineintrat, wohnen
Priester und Priesters Knecht, wohnen die Reinen,
Zauberer und Propheten, wohnen Lieblinge selbst der
großen Götter, wohnt Ereschkigal, der Erde und Un-
terwelt Königin. Vor ihr kniet der Erde Schreiberin,
drückt mit dem Keil die Namen hinein in den Ton und
liest sie ihr vor. Sie erhob ihr Haupt und erblickte
mich. ,Schreibe auch diesen mir ein!' Siehe, das ist
der Traum."
Gilgamesch spricht zu ihm, zu Enkidu:
„Gib deinen Dolch und weih ihn dem schlimmen
Geiste des Todes! Einen glänzenden Spiegel geb ich
dazu, der möge ihn bannen. Op fern wollen wir morgen
dem Richter der unheilvollen Utukki, daß er vertreibe
die böse Sieben."
Als die Sonne am nächsten Morgen erstrahlte, öff-
nete Gilgamesch die hohe Pforte des Tempels, brachte
hinaus einen Tisch aus Elamakuholz, füllt mit Honig
den Napf aus rotem Gestein, eine Schale aus Lapisla-
zuli füllt er mit Butter, stellt es hin und läßt es den
Sonnengott lecken.
i6
Die vierte Tafel
Und Schamasch, der Sonnengott, sprach zu Gilga-
mesch:
„Mache dich anf mit dem Freunde, zu streiten gegen
Chumbaba! Er ist zum Hüter des Zedcrnwaldes be-
stellt; durch den Zcdernwald geht es zum Götterberge
hinauf. Gegen mich hat Chumbaba gefrevelt, darum
geht und erschlaget ihn!"
Gilgamesch hörte das Wort des Herrn und rief zu-
sammen die Edlen des Volkes. Mit Enkidu trat er
hinein in die Halle. Und Gilgamesch tat seinen Mund
auf und sprach:
„Uns hat Schamasch geheißen, zu streiten gegen
Chumbaba. Friede sei mit euch und mit allem
Volke!"
Der Älteste unter den Edlen der Stadt erhob sich
und sprach:
„Immer beschirmte Schamasch seinen Freund, den
herrlichen Gilgamesch. Seine schützende Hand sei
nicht ferne von dir! Furchtbar ist der grimmige Hüter
des Zedernwaldes. Schamasch, der des Kampfes Be-
ginn dir verkündete, gab den Freund dir zurück, möge
er heil den Gefährten erhalten! Er stehe dir hilfreich
zur Seite und hüte dein Leben, o König! Du, unser
Hirte, du wirst vor dem Feind uns beschirmen."
Sie verlassen den Ort der Versammlung, und Gilga-
mesch sagt zu Enkidu :
„Freund, nun wollen wir gehen zum Tempel Egal-
mach und zu der heiligen Priesterin. Laß uns hingehn
zu Rischat, der Mutter und Herrin! Hell sieht sie,
zukünftigen Schicksals kundig. Sie gebe den Segen zu
n ir
unsern Schritten, in des Sonnengotts starke Hand lege
sie unser Geschick."
Sie gehen zum Tempel Egalmach und treffen die
heilige Priesterin, die Mutter des Königs. Sie vernahm
alle Worte des Sohnes und sprach:
„Möge Schamasch dir gnädig sein !"
Dann trat sie hinein in die Kammer der Feierkleider.
In heiligem Schmuck kehrte sie wieder zurück, gehüllt
in ein weißes Gewand, auf der Brust die goldnen Schil-
der, auf dem Haupte ihre Tiara, in der Hand die
Schale mit Wasser. Sie sprengte den Boden, dann
stieg sie den Turm des Tempels hinauf. Oben hoch
unter freiem Himmel stieg der duftende Weihrauch
empor. Opferkörner streute sie hin und hob zum er-
habenen Schamasch ihre Hand:
„Warum hast du Gilgamesch, meinem Sohne, ein
Herz gegeben, dessen Ungestüm die Ruhe nicht findet?
Wieder hast du ihn angerührt, denn er will gehen den
fernen Weg zu der Behausung Chumbabas. Einen
Kampf, den er noch nicht kennt, muß er bestehen.
Einen Weg, den er noch nicht kennt, wird er ziehen.
Von dem Tage an, da er geht, bis zum Tage, da er zu-
rückkehrt, bis er gelangt zum Zedernwalde, bis er
Chumbaba, den Starken, hinstreckt und den Frevel
gerächt, getilgt den Schrecken des Landes, - alle die
Tage, wenn du, Schamasch, verlangst nach Aja, deiner
Geliebten, möge sie von dir sich wenden! So möge
Aja, deine Gattin, an Gilgamesch dich erinnern. So-
lange sie dir das Lager der Liebe verweigert, soll dein
Herz wachen und seiner gedenken, bis heil er zurück-
kehrt."
So erflehte sie den Beistand der Gemahlin des
i3
Gottes. In bläulichen Wolken stieg der Weihrauch
zum Himmel. Sie stieg hinab, rief Enkidu und sprach:
„Enkidu, du Starker, du bist mir Freude und Trost.
Jetzt schirme mir Gilgamesch, meinen Sohn, und bringe
ein Opfer dem hohen Schamasch!"
Sie machten sich auf den Weg und zogen nach Nor-
den. Von ferne erblickten sie schon den Weltberg,
den Wohnsitz der Götter. Durch den Zedernwald
führte der Weg hinan. Als sie vor sich das Dunkel des
Waldes sahen, ließen sie die Zelte dahinten. Alleine
gingen sie näher zu dem Gehege der Götter.
Von weitem erspäht die Helden der Förster Chum-
babas. Er sieht sie nahen und kommt auf sie zu. Sein
Leib war mit sieben zauberkräftigen Mänteln bekleidet.
Sechs legte er ab, wechselte sie, so daß die untern nach
oben kamen. Wie ein Wildstier wutschnaubend, läuft
er heran und brüllt mit furchtbarer Stimme:
„Kommt nur her, daß ich euch den Geiern zum
Fraß hinwerfe!"
Doch Schamasch, der Sonnengott, schützte die Hel-
den, machte den Zauber der Mäntel des Försters zu-
nichte. Ninib, der Gott der Streiter, machte stark ihre
Hände, und sie erschlugen den Riesen, den Förster
Chumbabas.
Enkidu tat seinen Mund auf und spricht zu Gilga-
mesch also:
„Lieber Freund, wir wollen nicht näher dem Walde
gehen, nicht in das Dunkel des Forstes hinein! Wie ge-
lähmtsind mir alle Glieder, wie gelähmt meine Hand."
Gilgamesch sagt zu ihm, zu Enkidu:
„Sei nicht wie ein Schwächling, sei nicht furchtsam
19
und feige, mein Freund! Weiter müssen wir gehen
and gegen Chumbaba selbst nun wenden das Antlitz.
Erschlugen wir nicht seinen Förster? Sind wir nicht
beide kundig des Kampfes? Auf, zum Götterberge
hinan! Traue Schamasch, und du wirst dich nicht
fürchten ! Die Lähmung der Hand wird verschwinden.
Raffe dich auf aus der Schwäche! Komm, wir gehen!
Zusammen wollen wir streiten! Der Sonnengott ist
unser Freund und treibt uns zum Kampfe. Vergiß den
Tod! Dann gibt es gar keinen Schrecken. Im Walde
seien wir auf der Hut, wir wollen uns überall umsehn,
daß nicht der Starke aus seinem Versteck uns ergreife.
Der Gott, der dich schützte im eben bestandenen
Kampfe, möge meinen Gefährten beschirmen! Die
Länder der Erde werden unsere Namen preisen."
Sie machten sich auf den Weg und erreichten den
Zedernwald. Ihre Worte standen still, und sie selbst
blieben stehen.
Die fünfte Tafel
Sie standen schweigend davor und schauten den
Wald an : sie sehen die Zedern, staunend betrachten
sie die Höhe der Stämme. Sie blicken den Wald an
und die weite Lichtung, wo es hineinführt; da ist der
breite Weg, auf dem Chumbaba einhergeht mit stolzen,
stampfenden Schritten. Wege und Stege sind herge-
richtet, schöne Pfade sind angelegt. Sie sehen den Ze-
dernberg, die Wohnung der Götter, hoch oben den
heiligen Tempel Irninis. Vor dem Tempel stehen die
Zedern in prächtigster Fülle. Der Schatten der Bäume
tut den Wanderern wohl, die Zeder ist voller Jubel.
30
Unter ihr kriecht das Dornengestrüpp, und dunkle
Sträucher grünen im Moos. SchUnggewächse und
duftende Blumen bergen sich unter der Zeder im
dichten Gebüsch.
Eine Doppelstunde gingen sie weit, eine zweite und
eine dritte. Mühsam wurde die Wandrung, steiler ging
es hinauf zum Berge der Götter. Von Chumbaba sahen
und hörten sie nichts. Die Nacht senkte sich über
den Wald, die Sterne erschienen, und sie legten sich
schlafen.
Früh am Morgen weckte Enkidu den Freund:
„Ein Traumgesicht hatte ich, Freund, und der Traum,
den ich sah, war schrecklich fürwahr. Vor der Spitze
des Berges standen wir beide, da rollte ein überhängen-
der Felsen herunter mit Donnergetöse, ein Mensch
wurde zerschmettert, während wir beide zur Seite
flogen wie winzige Fliegen des Feldes, - dann waren
wir auf der Straße nach Uruk."
Da sagt der König zum Freunde:
„Enkidu, der Traum, den du hattest, ist gut. Der
Traum, den du sahst, ist köstlich, mein Freund, von
guter Bedeutung. Wenn du den Berg sahst nieder-
fallen, den dritten Menschen zerschmettern, so heißt
das: wir werden Chumbaba ergreifen und nieder-
schlagen. Aufs Feld werden wir seine Leiche werfen
und in der nächsten Morgendämmerung heimzichn."
Dreißig Stunden zogen sie weiter, dreißig Stunden
zählten sie schon. Vor dem Sonnengott gruben sie
eine Grube, zu Schamasch erhoben sie ihre Hände.
Gilgamesch stieg hinauf und trat auf den Hügel der
aufgeworfenen Erde, warf Körner hinein in die Grube
und sprach :
91
„Berg, bring ein Traumbild !
Mach dem Enkidu Träume, hoher Schamasch!"
Ein kalter Wind zog durch die Bäume, es fuhr ein
schauriger Sturm daher. Gilgamesch ließ den Freund
sich niederlegen, und selbst legte ersieh; er neigte sich
vor dem Sturm wie das Korn der Berge im Winde,
sank auf die Knie und stützte das müde Haupt dem
Freund. Ein Schlaf, wie er sich über die Menschen
ergießt, fiel^schwer auf Enkidu nieder. In der Mitte
der Nacht wr der Schlaf vorbei. Er richtet sich auf
und redet zu seinem Freunde:
„Gilgamesch, riefst du mich nicht? Woher bin ich
denn wach? Rührtest du mich nicht an? Warum bin
ich so aufgeschreckt? Ist nicht ein Gott vorüberge-
gangen? Warum ist mein ganzer Leib so gelähmt?
Mein Freund, wieder hatte ich einen Traum, und der
Traum, den ich sah, war schrecklich: Es rief der Him-
mel, Antwort brüllte die Erde, dunkle Wetterwolken
zogen herbei, finster ballten sie sich zusammen, ein
Blitz leuchtete auf, ein Feuer flammte empor, die Wol-
ken breiteten immer weiter sich aus, es regnete Tod.
Noch einmal wurde es hell, dann erlosch das Feuer.
Ein Mann, der vom Blitz erschlagen war, wurde zu
Asche. Laß uns weitergehen, auf den Matten zwischen
den Zedern wollen wir uns beraten."
Gilgamesch tat seinen Mund auf und sagt zu dem
Freunde:
„Enkidu, gut ist dein Traum, freudevoll ist seine
Deutung. Hart wird der Streit, doch wir werden Chum-
baba erschlagen."
Mühsam steigen sie weiter hinan bis zur Spitze des
Berges, wo der Zedern prächtigste Fülle die Wohnung
22
der Götter umkränzt. In blendendem Weiß erstrahlt
der heilige Turm der Göttin Irnini.
Da ertönt ein furchtbares Schnauben, die Bäume
rauschten. Chumbaba selbst sahen sie kommen, Pran-
ken hatte er wie ein Löwe, den Leib mit ehernen
Schuppen bedeckt, an den Füßen die Krallen des
Geiers, auf dem Haupte die Hörner des Wildstiers; der
Schwanz und das Glied der Zeugung enden im Schlan-
genkopf.
„Auf, Enkidu ! Schamasch, der Sonnengott, schenke
uns Leben!"
Sie schössen die Pfeile auf ihn, warfen das Wurf-
holz. Die Geschosse prallten zurück, er blieb unver-
sehrt. Nun steht er vor ihnen. Schon packt er Enkidu
mit kralligen Tatzen. Da erhebt der König die Streit-
axt. Getroffen sinkt Chumbaba zu Boden, und Gilga-
mesch trennt ihm das Haupt vom schuppigen Nacken.
Sie nehmen den mächtigen Leib und schleppen ihn
fort ins Freie. Sie werfen ihn hin den Vögeln zum
Fraß. Den Kopf mit den Hörnern tragen sie mit sich
auf hoher Stange zum Zeichen des Sieges.
Weiter geht es nun mutig hinauf zum Berge der
Götter. Durch der Zedern prächtigste Fülle gelangen
sie endlich zur Spitze des Berges. Da ruft vom Berg
eine Stimme, es ertönt die Stimme Irninis:
„Kehrt um! Euer Werk ist getan. Wendet euch
wieder nach Uruk, der Stadt, sie wartet auf euch!
Kein Sterblicher kommt auf den heiligen Berg, wo die
Götter wohnen. Wer den Göttern ins Angesicht
schaut, muß vergehn!"
Und sie wandten sich um, zogen durch Schluchten
und vielverschlungcne Wege, kämpltcn mit Löwen
nnd nahmen ihnen das Fell. Am Tage des Vollmonds
kehrten sie heim in die Stadt. Gilgamesch trug das
Haupt des Chumbaba auf seinem Jagdspieß.
Die sechste Tafel
Er wusch seine Waffen und machte blank das könig-
liche Geschmeide, kämmte sein Haar, das in den
Nacken herabfiel, warf ab seine schmutzigen Kleider
und zog ein reines Gewand an. Er wirft den umsäum-
ten Mantel sich um und umgürtet die Hüften. Seine
Tiara setzt Gilgamesch auf. Fest band er den Gürtel.
Schön war Gilgamesch. Da entbrannte die Göttin
der Liebe in Lust. Ischtar selbst erhob ihr Auge zu
Gilgamesch:
„Komm, Gilgamesch, sei mein Geliebter! Schenke
Inir deinen Samen, ach, schenke ihn mir! Du sei mein
Mann, ich sei dein Weib! Anschirren laß ich den
Wagen, aus Lapislazuli und aus Gold ist der Wagen;
seine Räder sind golden, mit Edelsteinen geziert seine
Hörner. Als Gespann sollst du täglich haben die
stärksten und schönsten Pferde. Unter dem Duft der
Zeder tritt ein in mein Haus ! Bist du in meinem er-
habenen Hause, küssen dir alle, die auf Thronen sitzen,
die Füße; es sinken in den Staub die Großen und die
Könige der Erde. Von den Bergen und der Ebene
sollen sie dir, was dein Herz begehrt, zum Tribute
bringen. Deine Rinder all, die Schafe und Ziegen der
Herde sollen dir Zwillinge werfen! Mit Schätzen be-
laden sollen Maultiere zu dir kommen. Herrlich vor
allen soll dein Streitwagenroß dahinstürmen, dein
prangender Hengst soll nicht seinesgleichen haben!"
Gilgfmesch tat seinen Mund auf und spricht, cur
mächtigen Ischtar sagt er:
„Behalte für dich deine Reize! Ich verachte die
Frucht deines schnöden lockenden Leibes. Ich brauch
nicht dein Brot, ich will nicht die Nahrung, die du mir
gibst. Schnöde ist deine Speise, wenn du auch Götter-
kost bietest; keine Lust erweckt mir dein Becher, wenn
du auch Trank der großen Götter mir darreichst. Bei
deiner Tücke will ich dich packen! Heiß ist dein
Werben, aber im Herzen ist Kälte, eine heimliche Hin-
tertür, die eisigen Wind hineinläßt, ein schimmerndes
Haus, das die Starken erschlägt, ein Elefant, der ab-
wirft den Sattel, ein Pech, das den Fackelträger ver-
zehrt, ein Schwimmschlauch, der platzt unter seinem
Träger, ein Kalkstein, der eine Stadtmauer nicht be-
festigt, ein Schuh, der seinen Besitzer drückt! Wo ist
ein Geliebter, den du beständig wirst lieben? Wo ist
dein Hirte, dem du immer geneigt bist? Deine Schand-
taten alle sollst du zu hören bekommen. Abrechnung
will ich dir halten : Tamuz, dem jugendlichen Geliebten,
dem Frühlingsgotte, hast du Jahr für Jahr bittre Klage
bestimmt. In einen buntgefiederten Hirtenknaben ver-
liebtest du dich; du schlugst ihn, zerbrachst seinen
Flügel. Im Walde steht er und ruft: kappi, kappi, mein
Flügel ! Den Löwen gewannst du lieb, denn er strotzte
vor Kraft; sieben- und siebenmal grubst du ihm Gru-
ben. Du liebtest das Roß, siegesfroh jagt es gegen den
Feind; du ließest es abgir die Peitsche, den Sporn und
die Geißel fühlen. Du gewannst auch lieb einen
kräftigen Oberhirten, fleißig streute er dir die Opfer-
körner, ein Zicklein schlachtete er dir täglich. Du
schlugst ihn mit deinem Stabe und machtest aus ihm
35
einen Wolf. Es verjagen ihn nun seine eigenen Hir-
tenjungen, seine eigenen Hunde zerbeißen ihm nun
das Fell. Endlich gewannst du lieb Ischullanu, deines
himmlischen Vaters Gärtner. Wann du nur wolltest,
brachte er dir einen Strauß, in Blumen prangte täglich
dein Tisch. Du warfst dein Auge auf ihn und locktest:
,Komm, Ischullanu, vom Brot der Götter wollen
wir essen, strecke die Hand nur aus ! Koste mit mir von
den süßen Früchten!*
Da sprach Ischullanu zu dir :
,Was verlangst du von mir? Hat meine Mutter nicht
gebacken und habe ich nicht gegessen, daß ich Speisen
essen sollte zu meinem Verderben, Speisen, die mir zu
Dornen und Disteln werden?'
Da du das hörtest, schlugst du auch ihn mit dem
Stabe, verwandeltest ihn in einen Dallalu, gabst ihm
eine Kloake zur Wohnung. Nun steigt er nicht mehr
hinauf in den Tempel und wieder hinab in den Garten.
- Meine Liebe begehrst du nun und willst mich wie
jene behandeln."
Als Ischtar das hörte, erfaßte sie gräßliche Wut.
Sie stieg zum Himmel empor. Ischtar trat hin vor Anu,
den Vater, und vor Antu, die himmlische Mutter, stellt
sie sich hin:
„Vater im Himmel, Gilgamesch hat mich ver-
wünscht, Gilgamesch hat als Bosheiten all meine Taten
mir hergezählt. Schandbar hat er an mir gehandelt."
Anu tat seinen Mund auf und spricht, er sagt zu ihrer
Hoheit, der Ischtar:
„Du fordertest also heraus die Liebe des Gilga-
mesch, und Gilgamesch hat deine Bosheiten aufge-
zählt. Wie schändlich hat Gilgamesch da gehandelt!"
26
Ischtar tat ihren Mund auf und spricht zu Anu, dem
Vater:
„Schaffe mir einen Wunderstier, himmlischer Vater,
daß er den Gilgamesch niederstoße! Bring Angst und
Schrecken über den Gilgamesch! Wenn du meine
Bitte nicht hörst und mir nicht den Wunderstier
schaffst, so will ich die Pforten der Hölle zerschmettern,
alle Teufel unter der Erde kommen hervor, alle, die
längst gestorben, werden dann wiederkehren. Tote
sollen dann mehr als Lebendige sein!"
Anu tat seinen Mund auf und spricht zur gewaltigen
Tochter, der Ischtar:
„Wenn ich tue, was du begehrst, so werden sieben
Hungerjahre entstehen. Hast du genügend Korn in
den Speichern gesammelt? Hast du Grün und Kräuter
genug wachsen lassen fürs Vieh?"
Ischtar spricht zu Anu, dem Vater:
„Genug Korn für die Menschen ist aufgehäuft; Gras
und Kräuter gibt es genug für das Vieh. Es mögen die
sieben bösen Jahre nur kommen, es ist genug gesam-
melt für Menschen und Vieh. Drum schicke ihn nur!
Des Wunderstiers Schnauben gegen den Gilgamesch
will ich genießen!"
Es hört der Himmelsgott ihre Worte. Und Anu
erhört ihre Bitte. Vom Götterberge herab schickt er
den furchtbaren Stier; nach Uruk, der Stadt, läßt er ihn
kommen. Über Saat und Felder tobt er daher. Er
verwüstet das Land vor den Mauern der Stadt. Hun-
dert Mann fegt sein feuerschnaubender Atem hinweg.
Wie er daherjagt, springt Enkidu zur Seite und faßt
ihn am Ende des Schwanzes. Der Stier reißt schnau-
bend sich los, stürze sich auf zweihundert Männer und
stößt sie nieder. Als er zum drittenmal schnaubend
herankommt, tritt Enkidu ihm wieder entgegen, springt
zur Seite und packt ihn fest an der Dicke des Schwan-
zes. Gilgamesch stößt ihm das Schwert in die Brust,
röchelnd sinkt er zu Boden. Enkidu tat seinen Mund
luf und spricht zu Gilgamesch:
„Freund, wir haben unsere Namen herrlich gemacht,
wir erschlugen den liimmelsstier!"
Und Gilgamesch, wie ein Weidmann erfahren in
Wildstierjagd, trennt zwischen Nacken und Hörnern
das Haupt vom mächtigen Rumpfe des Tieres.
Als sie so den Himmelsstier niedergestreckt, be-
ruhigten sie ihr Herz; vor Schamasch, dem Sonnen-
gott, fielen sie nieder. Sie erhoben sich vor Schamasch
und gingen davon. Vor der Mauer der Stadt ruhten
sie aus, die beiden Gefährten.
Da ging Ischtar hinauf auf die Mauer von Uruk, der
Stadt, sprang auf die Zinne und schrie einen Fluch
herab :
„Wehe dir, Gilgamesch, dreimal Wehe, Tod und
Verderben, daß du wieder an mir gefrevelt und den
himmlischen Stier erschlugst!"
Also fluchte die Herrin der Götter, und Enkidu
hörte die Worte der Ischtar. Ein Glied riß er los vom
Himmelsstier und schleudert es ihr ins Antlitz :
„Könnte ich dich nur kriegen! Wie ihm tat ich auch
dir, und mit seinen Gedärmen würde ich dich be-
hängen!"
Da versammelte Ischtar alle Mädchen des Tempels,
alle Frauen und Priesterinnen der Liebe, und ließ eine
Klage erheben. Und sie beweinten das abgerissene
Glied des Wunderstieres.
Gilgamesch rief die Meister, die Kunsthandwerker
alle zusammen. Staunend bewundern die Meister die
großen gewundenen Hörner; je dreißig Pfund Lazur-
stein wog ihre Masse, zwei Finger dick war ihre Schale.
Über sechshundert Liter Öl, soviel beide Hörner faß-
ten, spendete Gilgamesch als Salböl seinem Gott Lu-
galbanda, brachte die Hörner hinein in den Tempel
des schützenden Gottes und befestigte sie am Throne
des göttlichen Herrschers.
Im Euphrat wuschen sie ihre Hände und machten
sich auf. Sie ziehen dahin und reiten daher auf der
Straße in Uruk. Und alle Leute von Uruk stehen ver-
sammelt, schauen sie an und staunen. Zum Chore der
Frauen seines Palastes spricht Gilgamesch also:
„Wer ist schön unter den Männern?
Wer ist herrlich unter den Mannen?"
„Gilgamesch ist schön unter den Männern!
Gilgamesch ist herrlich unter den Mannen!*
so ertönt es im freudigen Chore der Frauen.
Froh ist Gilgamesch, ein Freudenfest feiert er. Flö-
tenspiel und Gesang zum Tanz erklang in der schim-
mernden Malle. -
Es ruhen die Mannen, hingestreckt auf dem nächt-
lichen Lager. Es ruht Enkidu, Traumbilder schaut er.
Es erhob sich Enkidu, erzählt seine Träume und spricht
zu Gilgamesch also:
Die siebente Tafel
Warum haben sich die großen Götter beraten?
Warum planen sie mein Verderben, Freund?
Seltsam war der Traum, den ich sah, sein Ende kün-
29
dete Unheil. Ein Adler packte mich mit ehernen
Krallen und flog mit mir vier Stunden hinauf. Er sprach
zu mir: , Schau hinunter aufs Land! Wie sieht es aus?
Blick auf das Meer! Wie erscheint es dir?* Und das
Land war wie ein Berg, und das Meer wie ein kleines
Gewässer. Und wieder flog er höher, vier Stunden
hinauf, und sprach zu mir: ,Schau hinunter aufs Land!
Wie sieht es aus? Blick auf das Meer! Wie erscheint
es dir?* Und die Erde war wie ein Garten, und das
Meer wie der Wasserlaufeines Gärtners. Und wieder
vier Stunden flog er höher und sprach: ,Schau hinunter
aufs Land! Wie sieht es aus? Blick auf das Meer! Wie
erscheint es dir?* Und das Land sah aus wie ein Mehl-
brei, und das Meer wie ein Wassertrog. Zwei Stunden
noch trug er mich höher hinauf, daließ er mich fallen.
Und ich fiel, und ich fiel und lag zerschmettert am Bo-
den. Dies ist der Traum. Lleiß vor Schrecken wachte
ich auf.**
Gilgamesch hörte die Worte Enkidus, und sein Blick
verfinsterte sich. Er erhob seine Stimme und sprach
zu Enkidu, dem Freunde:
„Ein böser Geist wird dich packen mit seinen Krallen.
Wehe, die großen Götter haben ein Unheil beschlossen !
Lege dich nieder, denn deine Stirne ist heiß.**
Enkidu legte sich hin, und über ihn kam ein Dämon,
ein böser Geist des Fiebers erfaßte sein Haupt. Eine
Tür redet er an wie einen lebendigen Menschen:
„Tür des Haines, Tor des Zedernberges, du hast ja
keinen Verstand! Vierzig Stunden bin ich gelaufen,
bis ich dein Holz erwählte, bis ich die hohe Zeder sah;
du bist aus echtem Holz. Zweiundsiebzig Ellen ist deine
Höhe, und vierundzwanzig Ellen beträgt deine Breite.
30
Aus hartem Felsen sind die Pfeiler gehauen, und schön
gewölbt ist dein Überbau. Ein Fürst in Nippur hat
dich gebaut. Hätte ich nur gewußt, du Tür, daß du
Verderben wurdest, und diese Schönheit mein Unheil,
ich hätte die Axt erhoben und dich zerschmettert. Ein
Rohrgeflecht hätt ich zusammengefügt — "
Da erhob Gilgamcsch laute Klage und sprach:
„Mein Freund, der mit mir Wüsten und Berge durch-
wanderte, mein Freund, der mit mir alle Gefahren teilte,
mein Freund, es erfüllt sich der Traum! Nicht läßt das
Schicksal sich hindern!"
Und am Tage, da er das Traumbild sah, begann 4as
Geschick des Traumes sich zu erfüllen. Krank liegt
Enkidu danieder. Er liegt auf dem Teppichlager, einen
Tag, einen zweiten Tag; der Wahn des bösen Fiebers
hält ihn gefangen. Einen dritten Tag, einen vierten
Tag liegt er und schläft. Einen fünften, sechsten und
siebenten, einen achten, neunten und zehnten Tag liegt
Enkidu da, und sein Schmerz wird groß; einen elften
und zwölften Tag stöhnt Enkidu auf in der Hitze des
Fiebers. Er ruft seinen Freund und spricht:
„Der Herr des Lebenswassers hat mich verwünscht,
mein Freund, wie einer, der mitten im Kampfe dem
Feinde flucht. Mein Freund, wer in der Schlacht er-
schlagen wird, ist tot. Ich aber wurde im Kampfe er-
schlagen!"
Die achte Tafel
Sobald der erste Morgenschimmer glänzte, erhob
sich Gilgamesch und trat zum Lager des Freundes.
Still lag Enkidu. Leise nur hob sich die Brust und senkte
31
sich wieder. Leise nur strömte der Hauch seiner Seele
aus seinemMunde. Und Gilgamesch weinte und sprach :
„Enkidu, du junger Freund, wo ist deine Kraft und
deine Stimme geblieben? Wo ist mein Enkidu? Stark
warst du wie Löwe und Wildstier, schnell warst du
wie die Gazelle. Wie einen Bruder liebte ich dich,
dich! Ich habe dich groß gemacht vor allen Fürsten,
dich, dich! Alle schönen Frauen von Uruk Hebten
dich, dich! Zum Zedernwald ging ich mit dir, Tag
und Nacht w^arst du bei mir. Du brachtest mit mir das
Haupt des Chumbaba in das umfriedigte Uruk, so daß
die bedrängten Bewohner der Berge, vom Unhold be-
freit, beständig uns segnen. Wir erschlugen den schnau-
benden Wunderstier. Hat seines Schnaubens giftiger
Hauch dich vielleicht getroffen? Haben die großen
Götter es doch nicht gebilligt, daß wir im Zorne über
die Ischtar ergrimmten und den Stier, vom Himmel
gesandt, erschlugen?"
Und schweigend saß er eine Stunde am Lager des
Freundes, und sein Blick irrte hinaus in die Ferne. Auf
Enkidu blickte Gilgamesch wieder. Still lag Enkidu
und schlief.
„Enkidu, Geliebter und Freund meiner jungen Jahre !
Da liegt nun der Panther der Steppe, der alles ver-
mochte, daß wir zum Götterberg stiegen, daß wir den
Himmelsstier packten und schlugen, den Chumbaba
niederwarfen, der im Zedernwald wohnte, - was ist
das jetzt für ein tiefer Schlaf, der dich gepackt hat?
Du siehst so finster aus und hörst mich nicht mehr!"
Doch der erhebt seine Augen nicht mehr. Gilga-
mesch berührte sein Pierz, aber es klopft nicht mehr.
Da deckte er zu den Freund wie eine Braut. -
ä«
Einem Löwen gleich erhob er die klagende Stimme,
einer Löwin gleich, die vom Speer getroffen, brüllte
er auf. Seine Haare raufte er aus und streute sie hin,
er zerriß sein Gewand und zog das staubige Trauer-
kleid an.
Sobald der nächste Morgenschimmer erglänzte, erhob
Gilgamesch neue Klage. Sechs Tage und sechs Nächte
beweint er Enkidu, den Freund. Bis die Morgenröte
des siebenten Tages erschien, ließ er ihn unbegraben.
Gilgamesch bestattet am siebenten Tage den Freund
und verläßt Uruk, die Stadt. Er eilt hinaus in die
Steppe. Draußen trifft ihn ein Jäger, der Fanggruben
gräbt für den Löwen. Der Jäger redet den König an
und spricht zu Gilgamesch also:
„Hoher Gebieter, du erschlugest den grimmen För-
ster des Zedernwaldes, und Chumbaba selbst, den Be-
herrscher des Zedernberges, warfst du nieder, mit deiner
Hand tötetest du in den Bergen die Löwen, den ge-
waltigen Stier erschlugst du, der vom Himmelsgotte
gesandt war, - woher sind deine Wangen so bleich
und abgezehrt, so niedergeschlagen dein Antlitz? Wo-
her ist deine Seele betrübt und deine Gestalt gebeugt?
Warum ist laute Klage in deinem Herzen? Warum bist
du gleich einem Wandrer ferner Wege? Warum ist
von Wind, Regenschauern und Mittagssonne dein
Antlitz verbrannt? Warum eilst du so ruhelos über
das Feld dahin?"
Und Gilgamesch tat seinen Mund auf, redet und
spricht zu ihm :
„Mein Freund, der mir verbunden war wie das Leib-
roß, der Panther der Steppe, Enkidu, mein Freund,
der alles vermochte, daß wir den Götterberg erstiegen.
Ö3
33
den Wunderstier packten und schlugen, Chumbaba
niederwarfen im Zederngebirge und in den Scliluchten
die Löwen töteten, mein Freund, der mit mir alle Ge-
fahren teilte, - ihn erreichte der Menschen Schicksal.
Sechs Tage und sechs Nächte habe ich ihn beweint,
bis zum siebenten Tag ließ ich ihn unbegraben. Das
Geschick des Freundes lastet so schwer auf mir. Da-
her eile ich über die Steppe und suche die weite Ferne.
Wie kann ich es nur verschweigen? Wie kann ich es
nur hinausschreien? Der Freund, den ich liebe, ist zu
Erde geworden, Enkidu, mein Freund, ist wie der
Lehm des Landes geworden! Werde nicht auch ich
wie er mich zur Ruhe legen müssen und nicht wieder
aufstehen in alle Ewigkeit?"
Die neunte Tafel
Um Enkidu, den Freund, weint Gilgamesch bitter-
lich und jagt dahin über das Feld:
„Werde nicht auch ich, ich, wie Enkidu sterben?
Mein Innerstes ist von Weh durchwühlt. Ich habe
Furcht vor dem Tode bekommen, und daher eile ich
über die Steppe dahin. Zu dem mächtigen Utnapisch-
tim, der ewiges Leben gefunden hat, nehme ich jetzt
den Weg, und eile zu ihm zu kommen. Wenn ich
nachts auf der Steppe bin und Löwen sehe, bin ich
furchtsam geworden. Ich erhebe mein Haupt und flehe
zu Sin, dem Monde; zu Nin-Urum, der Herrin der
Lebensburg, der Leuchtenden unter den Göttern,gehen
meine Gebete: Erhaltet mein Leben mir unversehrt!"
Müde legte er sich zur Ruhe und sah in der Nacht
einen Traum: Es spielte ein junger Löwe und freute
34
sich seines Lebens. An seiner Seite die Axt erhob er,
zog das Schwert seines Gürtels heraus, - da fiel ein
spitzer Fels wie ein Wurfspeer zwischen sie beide, zer-
sprengte die Erde. Er selbst sank hinab in den gähnen-
den Spalt. Erschreckt fuhr er auf und wanderte weiter.
Als die Dämmerung des nächsten Morgens erschien,
erhob er die Augen und sah ein großes Gebirge. Des
Gebirges Name ist Maschu. Das sind zwei Berge, die
tragen den Himmel; zwischen den Bergen wölbt sich
das Sonnentor, aus dem die Sonne hervorgeht. Ein
Riesenpaar bewacht das Bergtor des Himmels. Nur
mit der Brust ragen die Menschenleiber über der Erde
hervor, den skorpionenartigen Unterleib strecken sie
tief hinab in die Unterwelt. Schaurig, schrecklich sehen
sie aus, und Tod verkündet ihr AnbUck. Ihr gräßliches
Augenblitzen läßt Berge niederrollen zu Tal. Es sah
sie Gilgamesch; und er erstarrt. Vor Schrecken ver-
düstert sich sein Gesicht. Er faßt sich ein Herz und
verneigt sich vor ihnen. Der Skorpionmensch ruft
seinem Weibe zu:
„Der Mann, der da zu uns kommt, hat einen Leib
und ein Fleisch wie die Götter!"
Dem Skorpionen, dem Manne, entgegnet sein Weib :
„Zwei Drittel von ihm ist Gott, ein Drittel von ihm
ist Mensch."
Der Skorpionmensch, der Mann, ruft und spricht zu
dem Freunde der Götter, dem Gilgamesch:
„Einen weiten Weg machtest du, seltsamer Wan-
drer; du kamst bis vor mich hin. Du stiegst über Berge,
schwer zu überschreiten. Ich will deinen Weg wissen:
hier sind deinem Wandern Grenzen gesetzt. Das Ziel
deiner Fahrt wül ich wissen 1"
35
Gilgamesch antwortete ihm, dem Skorpionen, dem
Manne, und sprach:
„Um Enkidu, den Freund, den Panther der Steppe,
trage ich Leid. Ihn erreichte der Menschen Schicksal.
Den Tod fürchte ich nun, so jagte ich über die Steppe.
Das Geschick Enkidus lastet so schwer auf mir, zu
Staub ist geworden der Freund, den ich liebte. Enkidu,
mein Freund, ist wie der Lehm des Landes geworden.
So eilte ich durch die Länder, so stieg ich über die
Berge und kam bis zu dir hin. Ich dachte, zum mäch-
tigen Utnapischtim, meinem Ahnherrn, will ich gehen.
Er gelangte hinein in die Versammlung der Götter,
suchte und fand das Leben. Nach Tod und Leben will
ich ihn fragen."
Der Skorpionmensch tat seinen Mund auf und sagt
zu Gilgamesch also:
„Nie gab es für Menschen, Gilgamesch, einen gang-
baren Pfad durch diese Berge hindurch. Niemand hat
einen Weg durch das Gebirge gebahnt. Zwölf dop-
pelte Stunden zieht sich die Höhlenschlucht hin, die
zwischen den Himmelsbergen hindurchführt. Dicht ist
die Finsternis, keinen Schimmer von Licht gibt es im
Hohlweg, aus dem die Sonne hervorgeht, wenn sie über
den Ländern erscheint, in den die Sonne wieder hin-
eingeht, wenn sie von nächtlicher Himmels-Ozean-
fahrt zurückkehrt. Wir bewachen das Tor zu dem
finstern Hohlweg. Hinter den Bergen liegt das Meer,
das die Länder der Erde umschlingt. Du kannst den
Weg der Sonne nicht gehen; denn er führt in das Land
der lichten Götter. Kein Mensch drang jemals hin-
durch, durch die dunkle Schlucht. Hinter dem Tore
der Sonne, da wohnt auch dein Ahnherr; fern, an der
36
Mündung der Strömung, wohnt Utnapischtim, jenseits
der Wasser des Todes; über diese trägt kein Schiffdich
hinüber."
Gilgamesch vernahm die Rede des Riesen und
spricht:
„Durch lauter Weh führt mein Weg; des Leides
schaurige Trübsal ist mir bestimmt. Soll ich in Jammer
und Klage meine Tage verbringen? Gewähremir jetzt
den Eintritt in das Gebirge, daß ich den Utnapischtim
sehe und nach dem Leben ihn frage, das er gefunden.
Laß mich hindurch, damit auch ich das Leben gewinne !"
Der Skorpionmensch tat seinen Mund auf, redet und
spricht zu Gilgamesch:
„Kühn bist du, Gilgamesch, und von gewaltiger
Kraft. Geh nur, Gilgamesch, und wage den Weg zu
finden! Die Berge von Maschu sind höher als alle
Berge der Erde. Im Innern dieses Gebirges bilden die
Felsen eine grausig finstere Schlucht. Mögest du heil
zum Ende des Hohlwegs gelangen ! Das Sonnentor der
Berge, das wir bewachen, sei dir aufgetan!"
Gilgamesch hörte die Worte und machte sich auf
den Weg; nach dem Geheiß und den Winken des
Riesen nahm er den Weg. Den Weg der Sonne geht
Gilgamesch.
In zwei Stunden erreicht er die dunkle Schlucht.
Dicht war die Finsternis, es gab keinen Schimmer von
Licht; nicht sieht er, was vor ihm liegt und was hinter
ihm liegt. Drei doppelte Stunden vollendete er. Dicht
war die Finsternis, es gab keinen Schimmer von Licht;
nicht sieht er, was vor ihm liegt und was hinter ihm
liegt. Vier doppelte Stunden vollendete er. Dicht
war die Finsternis, es gab keinen Schimmer von Licht;
37
nicht sieht er, was vor ihm liegt nnd was hinter ihm
liegt. Fünf doppelte Stunden vollendete er. Dicht
war die Finsternis, es gab keinen Schimmer von Licht;
nicht sieht er, was vor ihm liegt und was hinter ihm
liegt. Sechs doppelte Stunden vollendete er. Dicht
war die Finsternis, es gab keinen Schimmer von Licht;
nicht sieht er, was vor ihm liegt und was hinter ihm
liegt. Sieben doppelte Stunden vollendete er. Dicht
war die Finsternis, es gab keinen Schimmer von Licht;
nicht sieht er, was vor ihm liegt und was hinter ihm
liegt. Acht doppelte Stunden hat er vollendet. Laut
schreit er auf. Dicht war die Finsternis, es gab keinen
Schimmer von Licht. Nicht läßt die Dunkelheit sehen,
was vor ihm liegt und was hinter ihm liegt. Neun dop-
pelte Stunden hat er vollendet, da fühlt er den Nord-
wind. Gebeugt ist seine Gestalt, vorwärts gerichtet
sein Antlitz. Dicht war die Finsternis, es gab keinen
Schimmer von Licht. Zehn Doppelstunden vollendete
er; das Dunkel läßt nach, das Licht ist nahe! Elf Dop-
pelstunden hat er vollendet. Die Schlucht wird brei-
ter, er sieht den ersten Schimmer der Sonne. Zwölf
Doppelstunden vollendete er, da wurde es helle. Und
das Licht des vollen Tages umfing ihn wieder.
Vor ihm lag der Park der Götter; er sah ihn. Er
geht in stürmischen Schritten auf den Garten der Götter
zu. Rubinen sind seine Früchte, rankende Reben
hängen da, wundervoll anzuschauen; Lapislazuli trägt
ein anderer Baum, und mancherlei andere Früchte,
begehrenswert anzusehen, tragen die Bäume des Gar-
tens. Lockend glänzt in den Strahlen der Sonne der
Garten. Und Gilgamesch erhebt seine Hände zum
Sonnengotte Schamasch:
38
„Lang nnd beschwerlich war meine Wandrung! Die
Tiere der Wildnis mußt ich erlegen, in ihre Felle
mußte den Leib ich hüllen, und ihr Fleisch war meine
Nahrung. Durch das Bergtor erhielt ich Einlaß und
machte den Weg durch der Schluchten grausige Fin-
sternis. Vor mir liegt der Garten der Götter, dahinter
das weite Meer. Weise mir nun den Weg zu Utna-
pischtim, dem Fernen! Zeige mir nun den Schiffer,
der mich sicher dahinfährt über das Weltmeer und
durch die Wasser des Todes, damit ich das Leben er-
kunde!"
Schamasch hörte ihn an, er wurde bekümmert und
spricht zu Gilgamesch also:
„Gilgamesch, wohin läufst du? Das Leben, das du
suchst, findest du nicht!"
Gilgamesch sagt zu ihm, zum hehren Schamasch:
„Über die Steppe bin ich gezogen im Elend der Ein-
samkeit, ein Stern nach dem andern ging unter, und
alle Jahre lag ich nachts auf dem öden Felde. Nicht
Sonne, nicht Mond, keine Sterne erschienen mir in
dem finstern Hohlweg. Laß meine Augen dich sehen,
Sonne, daß ich mich sättige an deiner schönen Helle!
Die Finsternis ist vergangen und ferne, die ganze Fülle
des Lichts umgibt mich wieder. Wann dürfte wohl der
Sterbliche schauen ins Auge der Sonne? Soll nicht
auch ich das Leben suchen und das Leben finden für
alle Tage?"
Und Schamasch vernahm seine Worte und spricht
zu Gilgamesch:
„Geh zu Siduri Sabitu, der weisen Frau vom Him-
melsbcrge! Auf einem Throne sitzt sie im Göttergar-
ten am Meere und hütet den Baum des Lebens. Geh
39
hin zu dem Garten, der vor dir liegt! Sie kann dir
weisen den Weg zu Utnapischtim, dem Fernen."
Gilgamesch hörte die Worte und machte sich auf
den Weg. Vor sich sah er den Garten der Götter. In
üppiger Fülle stehen die Zedern, an den Bäumen
prangt edles Gestein. Wie Meerestang breitet sich aus
unter den Bäumen der grüne Smaragd, wie Dorn und
Distel blüht hier der Edelstein. Saphir ist der Same
der Frucht. Gilgamesch hemmt seine Schritte und hebt
seine Augen auf zum Garten der Götter.
Die zehnte Tafel
Siduri Sabitu, die Göttin, hat ihren Thron hoch über
dem Ufer des Meeres. Da sitzt sie und hütet den
Eingang zum Garten der Götter. Einen Gürtel trägt
sie, fest gebunden über den Hüften. Ihr Leib ist ein-
gehüllt in ein langes Gewand.
Suchend läuft Gilgamesch hin und her, dann lenkt
er die Schritte zum Tore. Mit Fellen wilder Tiere ist
er bekleidet, furchtbar ist seine Gestalt, göttergleich
ist sein Leib. Weh ist in seinem Herzen, wie ein
Wandrer ferner Wege sieht er aus.
Sabitu schaut in die Ferne und spricht zu sich selber
und sagt, während sie Rat hält in ihrem Herzen: „Ist
etwa der da einer, der in den Garten der Götter will?
Wo geht er hin mit stürmischen Schritten?" Als Sabitu
ihn näher sah, schloß sie ihr Tor, sie verschließt die
Pforte und schiebt den Riegel davor.
Gilgamesch war entschlossen hineinzudringen. Er
erhob seine Hand und legte die Axt an das Tor. Und
Gilgamesch sprach zur Göttin Sabitu:
40
,,Sabitu,\vas sahst du, daß du die Pforte mir schließt?
Dein Tor verschlössest du mir und schobst den Riegel
davor. Ich zerschmeiße die Tür, den Riegel zerbrech
ich!"
Sabitu öffnet das Tor und redet den Gilgamesch an
am Eingang des Gartens. Sabitu spricht zu ihm, zu
dem Gilgamesch:
„Warum sind deine Wangen so abgezehrt? Warum
ist deine Stirne düster gefaltet? W^arum ist so betrübt
deine Seele und gebeugt deine Gestalt? Warum ist
Weh in deinem Herzen? Wie ein Wandrer ferner
Wege siehst du aus. Von Sturmwind und Sonne bist
du gebräunt, von der Mittagsglut ist dein Gesicht ver-
brannt. Warum bist du von weither über die Steppe
geeilt?"
Gilgamesch sagt zu Sabitu, der Göttin:
„Wie sollten nicht abgezehrt sein die Wangen, nicht
die Stirne düster gefaltet? Wie sollte nicht meine Seele
bctrübtsein und nicht gebeugt meine Gestalt? Wie sollte
nicht Weh sein in meinem Herzen? Wie sollte ich nicht
einem Wandrer ferner Wege gleichen? Wie sollte nicht
von Sturmwind und Sonne gebräunt, von der IMittags-
glut verbrannt sein mein Antlitz? Wie sollte ich nicht
weit hinweg über die Steppe forteilen? Mein junger
Bruder, der Panther der Steppe, Enkidu, mein junger
Freund, der alles vermochte, daß wir den Zedernberg
erstiegen, daß wir den Himmelsstier packten und schlu-
gen, den Chumbaba niederwarfen, der im Zedernwald
hauste, daß wir Löwen erlegten in Bergesschluchten,
mein Freund, der mit mir alle Gefahren und Mühen
teilte, Enkidu, den ich liebte, gar sehr liebte, - ihn er-
reichte der Menschen Geschick. Tag und Nacht weinte
41
ich um ihn und legte ihn nicht in ein Grab. Ich wartete
und gedachte, mein Freund müßte auferstehen durch
mein Schreien. Sieben Tage und sieben Nächte lag er
da wie ein zertretener Wurm. Ich suchte das Leben
und fand es nicht mehr. So jagte ich in der Steppe
umher gleich einem Manne der Wildnis. Das Schick-
sal des Freundes lastet so schwer auf mir. Wie soll
ich es nur verschweigen? Wie soll ich es nur hinaus-
schreien? Mein Freund, den ich liebe, ist zu Staub ge-
worden, Enkidu, mein Freund, ist wie der Lehm des
Landes geworden! Werde nicht auch ich wie er mich
zur Ruhe legen müssen und nicht wieder aufstehen in
tlle Ewigkeit? Jetzt, Sabitu, blicke ich auf dich hin,
damit ich den Tod, den ich fürchte, nicht schaue."
Sabitu spricht zu Gilgamesch also:
„Gilgamesch, wohin läufst du? Das Leben, das du
suchst, wirst du nicht finden. Als die Götter die Men-
schen schufen, bestimmten sie den Tod für die Men-
schen, das Leben behielten sie für sich selbst. Drum,
Gilgamesch, - iß und trink, fülle dir deinen Leib, Tag
und Nacht freue dich nur! Mache doch jeden Tag dir
ein Freudenfest! Freue dich Tag und Nacht bei Har-
fen, Flöten und Tanz! Ziehe reine Kleider dir an,
wasche und salbe dein Haupt und bade den Leib in
frischem Wasser! Sieh froh die Kinder an, die deine
Hand erfassen! Freue dich in den Armen des Weibes!
Drum kehre zurück nach Uruk, in deine Stadt, als der
gepriesene König und Held!"
Doch Gilgamesch sagt zu ihr, zu Sabitu:
„Genug, Sabitu, zeige den Weg mir zu Utnapischtim!
Gib mir Weisung, daß ich zu ihm gelange ! Wie komme
ich hin zu ihm? Weise es mir! Wenn es angeht, will
42
ich über das Meer hinüberfahren, wenn es nicht mög-
lich ist, will ich am Ufer hin weitereilen!"
Sabitu spricht zu ihm, zu dem Gilgamesch:
„Keine Stelle gibt es an diesem Meer, von der einer
glücklich hinüberfuhr, um glücklich zu landen. Keiner,
der seit der Vorzeit Tagen hierher kam, konnte über
das Meer hinüber. Wohl fährt über das Meer Scha-
masch, der gewaltige Held, doch außer dem Sonnen-
gott, -wer geht da hinüber? Schwierig ist die Überfahrt
über das Weltmeer, schwierig der Weg bis zu den
Wassern des Todes, die vor dem fernen Jenseits Hegen.
Wie willst du, Gilgamesch, über das Meer gelangen?
Kommst du selbst bis zu den Wassern des Todes, -
was willst du dann tun? - Doch siehe, es ist da Ur-
Schanabi, der Schiffer des Utnapischtim, dort wo die
Steinkisten liegen! Eben ging er zum Walde, er pflückt
sich Kräuter und Beeren. Suche ihn auf! Wenn es
angeht, dann fahre mit ihm hinüber, wenn es nicht
möglich ist, kehr wieder um!"
Als Gilgamesch dieses hörte, erhob er die Axt und
hing die Wafle in seinen Gürtel. Er machte sich auf
den Weg und ging hinab zum Ufer des Meeres. Wie
ein Wurfspeer fiel das Tor des Göttergartens zwischen
ihn und die Göttin.
Gilgamesch sieht in die Ferne, an der Mündung
der Ströme erblickt er ein Schiff. Dahin lenkt er
die Schritte, zum Fährschiff des Utnapischtim. Er
schaut aus nach dem Schiflier, der ihn sicher führe
über das weite Meer und über die Wasser des Todes.
Er kommt zu dem Fluß und hemmt seinen Schritt.
Da liegt das Schiff; er eüt am Ufer entlang, doch
den Schilfer findet er nicht. Nur Kisten, mit Steinen
43
gerüllt, sieht er da liegen. Er geht in den Wald und
ruft:
„Fährmann, ich suche dich ! Bringe mich sicher über
das Meer und über die Wasser des Todes!"
Er ruft laut, doch keine Antwort vernimmt er. Gil-
gamesch kehrt zurück zu den Kisten und zerbricht sie
in seinem Zorn. -
Er macht sich auf und kehrt zum Walde zurück.
Seine Augen schauen den Ur-Schanabi, und er tritt
zu ihm hin. Ur-Schanabi sagt zu ihm, zu dem Gilga-
mesch :
„Nenne mir deinen Namen, sage ihn mir! Ich bin Ur-
Schanabi, der Schiffer des Utnapischtim, des Fernen."
Gilgamesch spricht zu ihm, zu Ur-Schanabi:
„Gilgamesch ist mein Name. Ich bin hergekommen
vom Länderberge des Anu; einen fernen Weg bin ich
gewandert vom Aufgang der Sonne her. Jetzt, Ur-
Schanabi, erblick ich dich endlich. Laß mich schauen
Utnapischtim, den Fernen!"
Ur-Schanabi spricht zu dem Gilgamesch:
„Warum sind deine Wangen so abgezehrt? Warum
ist deine Stirne düster gefaltet? Warum ist so betrübt
deine Seele und gebeugt deine Gestalt? Warum ist
Weh in deinem Herzen? Wie ein Wandrer ferner Wege
siehst du aus. Von Sturmwind und Sonne bist du ge-
bräunt, von der Mittagsglut ist dein Gesicht verbrannt.
Warum bist du von weither über die Steppe geeilt?"
Gilgamesch sagt zu ihm, zu Ur-Schanabi, dem
Schiffer:
„Warum sollten nicht abgezehrt sein die Wangen,
nicht die Stirne düster gefaltet? Wie sollte nicht
meine Seele betrübt sein und nicht gebeugt meine Ge-
44
stalt? Wie sollte nicht Weh sein in meinem Herzen?
Wie sollte ich nicht einem Wandrer ferner Wege glei-
chen? Wie sollte nicht von Sturmwind und Sonne ge-
bräunt, von der Mittagsglut verbrannt sein mein Ant-
litz? Wie sollte ich nicht weit hinweg über die Steppe
forteilen? Mein junger Bruder, der Panther der Steppe,
Enkidu, mein junger Freund, der alles vermochte, daß
wir den Zedernberg erstiegen, daß wir den Himmelsstier
packten und schlugen, den Chumbaba niederwarfen,
der im Zedernwald hauste, daß wir Löwen erlegten in
Bergesschluchten, mein Freund, der mit mir alle Gefah-
ren und Mühen teilte, Enkidu, den ich liebte, gar sehr
liebte, - ihn erreichte der Menschen Geschick. Sechs
Tage und sechs Nächte weinte ich um ihn und legte
ihn nicht in ein Grab. Ich lernte den Tod fürchten, so
eilte ich über die Steppe dahin. Das Schicksal des
Freundes lastet so schwer auf mir. Darum komm ich
von ferne her, hinter mir habe ich einen weiten Weg.
Wie soll ich es nur verschweigen? Wie soll ich es
nur hinausschreien? Mein Freund, den ich liebe, ist
Staub geworden, Enkidu, mein Freund, ist wie der
Lehm des Landes geworden! Werde nicht auch ich
wie er mich niederlegen müssen und nicht wieder auf-
stehen in alle Ewigkeit?"
Und Gilgamesch spricht zu Ur-Schanabi, dem
Schiller:
„Nun, Ur-Schanabi, wie komm ich zu Utnapisch-
tim? Gib mir Weisung, wie ich zu ihm gelange! Zeige
mir den geheimen Weg! Wenn es angeht, will ich das
Meer überqueren, wenn es nicht möglich ist, will ich
am Ufer hin weitercilen!"
Ur-Schanabi, der Schiffer, sagte zu ihm:
45
„Deine Hände, Gilgamesch, haben die glückliche
Landung verhindert; du zerbrachst die Kisten dort, den
Übergang über die seichte Stelle der strömenden
Wasser des Todes hast du selbst dir zerstört. Die Stein-
kisten sind zerbrochen, so kann ich dich nicht mehr
zur Insel des Lebens hinübergeleiten. - Doch, Gilga-
mesch, nimm die Axt deiner Seite, mache dich auf,
geh hin zum Walde und fälle hundertundzwanzig
Stämme, so daß jede Stange sechzig Ellen beträgt»
Haue sie ab, spitze sie zu und bringe sie zu mir!"
Als Gilgamesch dies hörte, nahm er die Axt seiner
Seite, ging in den Wald und fällte hundertundzwanzig
Stämme, hieb sie zurecht, so daß jede Stange sechzig
Ellen betrug, und spitzte sie zu. Er legt sie zusammen
und bringt sie zu Ur-Schanabi.
Sie bestiegen das Schiff, mit den Stämmen beladen,
brachten es in die wogenden Fluten und segelten blitz-
schnell dahin. Einen Monat und fünfzehn Tage lang
ist die Strecke. Siehe da, schon am dritten Tag erreichte
Ur-Schanabi die Wasser des Todes.
Ur-Schanabi sagt zu ihm, zu dem Gilgamesch:
„Einen der Stämme ramme nun ein mit der Axt,
fest in den Grund! Die Wasser des Todes darf deine
Hand nicht berühren, sonst stirbst du. Nimm einen
zweiten Stamm her und stoße ihn fest in den Grund!
Einen dritten her, Gilgamesch! Hau ihn ein!
Den vierten her, Gilgamesch! Hau ihn ein!
Den fünften her, Gilgamesch! Hau ihn ein!
Den sechsten her, Gilgamesch! Hau ihn ein!
Den siebenten her, Gilgamesch! Hau ihn ein!
Den achten her, Gilgamesch! Hau ihn ein!
Den neunten her, Gilgamesch! Hau ihn ein!
4<5
Den zehnten her, Gilgamesch! Hau ihn ein!
Den elften her, Gilgamesch! Hau ihn ein!
D en zwöl ften her, Gilgamesch ! Hau ihn ein ! "
Hundertundzwanzig Stämme hat Gilgamesch endlich
verbraucht. Nun löst er den Gürtel über der Hüfte,
^X^irft das Löwenfell ab und hebt mit kräftiger Hand
den Mastbaum heraus.
Utnapischtim schaut in die Ferne und spricht zu
sich selbst und sagt, während er Rat hält in seinem
Herzen: „Warum sind die Steinkisten des Schiffes ver-
schwunden? Und einer, der nicht meine Ermächtigung
hat, fährt in dem Schiffe! Der da kommt, kann doch
nicht ein Mensch sein!? Ich schaue hin: ist das nicht
ein Mensch? Ich schaue hin: ist das nicht ein Mann?
Ich schaue hin: ist das nicht ein Gott? Er gleicht mir
durchaus. - Mit wuchtiger Hand rammt er die Pfahle
ein in die reißenden Wasser des Todes, so daß sie die
Kisten mit Steinen ersetzen, die Ur-Schanabi gewöhn-
lich hinabließ. Nun ziehen sie sicher das Boot an den
Pfählen entlang hinüber. Bald sind sie am Ufer der
Insel. Aber die Pfähle sind alle verbraucht. Da hebt
der Fremdling den Mastbaum empor, teilt ihn durch
mit der Axt, stößt die beiden Stämme ins Wasser, und
mit kräftigem Ruck ist das Boot ans Ufer gebracht."
Utnapischtim steigt vom Hause herab und eilt auf
den Fremden zu; und Utnapischtim spricht zu Gilga-
mesch:
„Nenne mir deinen Namen, sage ihn mir! Ich bin
Utnapischtim, der das Leben gefunden hat."
Gilgamesch spricht zu ilim, zum seligen Utna-
pischtim:
4T
„Gilgamesch ist mein Name. Ich bin hergekommen
vom Länderberge des Anu. Einen fernen Weg bin
ich gewandert vom Aufgang der Sonne her. Jetzt
schaue ich endlich dich, Utnapischtim, den Fernen!"
Utnapischtim sagt zu ihm:
^Warum sind deine Wangen so abgezehrt? Warum
ist deine Stirne düster gefaltet? Warum ist so betrübt
deine Seele und gebeugt deine Gestalt? Warum ist
Weh in deinem Herzen? Wie ein Wandrer ferner
Wege siehst du aus. Von Sturmwind und Sonne bist
du gebräunt, von der Mittagsglut ist dein Gesicht ver-
brannt. Warum bist du von weither über die Steppe
geeilt?"
Gilgamesch sagt zu ihm, zu Utnapischtim, dem
Fernen:
„Warum sollten nicht abgezehrt sein die Wangen,
nicht die Stirne düster gefaltet? Wie sollte nicht meine
Seele betrübt sein und nicht gebeugt meine Gestalt?
Wie sollte nicht Weh sein in meinem Herzen? Wie
sollte ich nicht einem Wandrer ferner Wege gleichen?
Wie sollte nicht von Sturmwind und Sonne gebräunt,
von der Mittagsglut verbrannt sein mein Antlitz? Wie
sollte ich nicht weit hinweg über die Steppe forteilen?
Mein junger Bruder, der Panther der Steppe, Enkidu,
mein junger Freund, der alles vermochte, daß wir den
Zedernberg erstiegen, daß wir den Himmelsstier pack-
ten und schlugen, den Chumbaba niederwarfen, der
im Zedernwald hauste, daß wir Löwen erlegten in
Bergesschluchten, mein Freund, der mit mir alle Ge-
fahren und Mühen teilte, Enkidu, den ich liebte, gar
sehr liebte, - ihn erreichte der Menschen Geschick.
Sechs Tage und sechs Nächte weinte ich um ihn und
48
legte ihn nicht in ein Grab. Ich lernte den Tod fürch-
ten, so eilte ich über die Steppe dahin. Das Schicksal
des Freundes lastet so schwer auf mir. Darum komm
ich von ferne her, hinter mir habe ich einen weiten
Weg. Wie soll ich es nur verschweigen? Wie sollich
es nur hinausschreien? Mein Freund, den ich liebe, ist
Staub geworden, Enkidu, mein Freund, ist wie der
Lehm des Landes geworden! Werde nicht auch ich
wie er mich zur Ruhe legen müssen und nicht wieder
aufstehen in alle Ewigkeit?"
Und Gilgamesch spricht zu Utnapischtim:
„Ich dachte, ich will nun gehen zu Utnapischtim,
dem Fernen; den selig Gepriesenen, der das Leben ge-
funden hat, will ich sehen. So zog ich aus und w^an-
derte durch die Länder, so zog ich über Berge, die
schwer sind zu überschreiten, so fuhr ich über Ströme
und Meere. Nicht habe ich mich zufrieden am guten
Glücke gesättigt, ich trank mich, satt in Leid; Weh war
meine Nahrung. Zu der Sabitu war ich noch nicht ge-
langt, da war meine Kleidung längst dahin. Wildvogel,
Steinbock, Hirsch und Gazelle mußte ich jagen, ihr
Fleisch zu essen; den Löw^n, den Panther, den Wü-
stenhund mußte mein Speer erlegen, ihre Felle mußten
mich kleiden. Mögen die Totengeister ihr Tor nur
verriegeln, mit Erdpech und Steinen verrammeln! Ich
will die Geister des Todes vernichten, nicht länger
soll ihr Jubel währen! Utnapischtim, künde du mir das
Leben! Du hast das Leben gewonnen."
Utnapischtim spricht zu ihm, zu dem Gilgamesch:
„Laß die Klage und laß den Zorn! Götter und Men-
schen haben verschiedenes Los. Als einen Menschen
erzeugten dich Vater und Mutter. Wenn auch zwei
203
49
Drittel von dir göttlicher Art sind, ein Drittel ist
Mensch und zieht dich hinein ins Schicksal der Men-
schen. Nicht ein ewiges Leben ist den Menschen be-
stimmt. Grimmig ist der Tod, er setzt allem Leben ein
Ziel. Bauen wir Häuser auf immerdar? Siegeln wir
Verträge für ewig? Teilen Brüder ewig das Erbe?
Genießt der Mensch ewig die Freuden der Zeugung?
Trägt der Fluß alle Tage die Hochflut empor und bringt
dem Land Überschwemmung? Sieht der Kulilu- und
der Kirippa-Vogel immer das Frühjahr, sieht sein Auge
das Antlitz der Sonne für immer? Von der Tage An-
beginn her gibt es keine Dauer. Gleichen sich nicht
das neugeborene Kind und der Tote? Sind sie nicht
beide mit Zügen des Todes gezeichnet? Wenn der
Aufpasser und der Zuriegler aus der Unterwelt die
Seele ans Licht läßt, und den Neugebornen die Sonne
begrüßt, dann versammeln sich allzugleich die gewal-
tigen Anunnaki, die großen Geister, und die Mametum,
die schicksalschaffende Göttin, und sie bestimmen zu-
sammen des Menschen Geschick. Sie bestimmen des
Lebens Tage, aber des Todes Tage zählen sie nicht."
Die elfte Tafel
Gilgamesch spricht zu ihm, zu Utnapischtim, dem
Fernen:
„Ich schaue dich an, Utnapischtim, du bist nicht
größer und breiter als ich, du gleichst mir wie ein Vater
dem Sohne. Du bist nicht anders beschaffen wie ich,
ein Mensch wie ich bist auch du. Doch ich bin ruhe-
los; Kampf zu führen bin ich geschaffen. Du aber bist
dem Kampfe entrückt, liegst ruhig: auf deinem Rücken.
50
Wie kamst du denn nur hinein in die Versammlung der
Götter, suchtest und fandest das Leben?"
Utnapischtim spricht zu ihm:
„Ich will dir eröffnen, Gilgamesch, eine verborgene
Geschichte, und ein Geheimnis der Götter will ich dir
künden. Schurippak ist eine Stadt - du selber kennst
sie -, am Euphrat gelegen. Es ist eine alte Stadt, lange
Zeit waren die Götter ihr gnädig. Da faßten die Göt-
ter den Plan, eine Sturmflut herbeizuführen. In der
Ratsversammlung hat auch Ea, der Gott der Tiefe, ge-
sessen. Meinem Rohrhaus erzählte er den Ratschluß
der Götter:
,Rohrhaus, Rohrhaus! Wand, Wand! Rohrhütte,
höre! Wand, vernimm! Du Mann aus Schurippak, Ut-
napischtim, Sohn des Ubara-Tutu, baue ein Holzhaus,
errichte es in einem Schiff! Laß Reichtum fahren,
suche Leben, verachte Besitz, rette das Leben! Bring
Lebenssamen von jeder Art in das Schiff! In gutem
Verhältnis seien Länge und Breite! Baue das Schiff
sogleich! Bring es zum Süßwassermeer und versieh es
mit einem Dach!' Ich begriff; und ich sage zu Ea,
dem Gott, meinem Herrn: ,Ich werde tun, Herr, was
du befiehlst, in Ehrfurcht werde ich deinen Geboten
folgen. Was aber soll ich der Stadt, dem Volk und den
Ältesten sagen?' Ea tat seinen Mund auf und sprach
zu seinem Knechte, zu mir: ,Du Menschenkind, so
sollst du zu ihnen sprechen: der große Gott Bei siebet
mich scheel an, deshalb will ich in eurer Stadt nicht
wohnen bleiben, das Land des Bei will ich nicht mehr
sehen. Hinab zum Süßwassermeer will ich ziehen, um
bei Ea zu wohnen, der mir ein gnädiger Herr ist. Er
aber wird euch segnen mit allerlei Reichtum/
51
Als der erste Schimmer des Morgens erglänzte,
machte ich alles bereit. Ich zog zum Süßvvassermeer,
schaffte das Holz und Teer herbei, entwarf den Plan
des Schiffes und zeichnete es mir auf All mein Ge-
sinde, Starke und Schwache legten die Hand an dos
Werk. Im Monat des großen Schamasch wurde das
Schiff vollendet. Was ich besaß, lud ich auf; ich lud
auf Silber und Gold, ich lud auf Lebenssamen jeglicher
Art. Meine ganze Familie und nächste Verwandtschaft
Heß ich gehen aufs Schiff Das Großvieh und das
kleine Getier bracht ich hinein. Handwerker einer
jeglichen Kunst Heß ich hineingehen.
Einen Zeitpunkt hatte der Gott mir gegeben: ,Am
Abend, wann die Herrscher der Finsternis herabströ-
men lassen furchtbaren Regen, dann tritt in das Schiflf
und verschließe die Tür!' Es kam die Zeit, da ließen
die Herrscher der Finsternis einen furchtbaren Regen
niedergehen. Ich sah das Wetter mir an, das Wetter
war furchtbar anzuschauen. Ich ging hinein in das
Schiff und verschloß die Tür. Dem Steuermann über-
gab ich das riesige Boot. Als der Morgen erschien,
stieg rabenschwarzes Gewölk auf AHe bösen Geister
wüteten, alle Helligkeit war verwandelt in Finsternis.
Es brauste der Südsturm, die Wasser brausten dahin,
die Wasser erreichten schon das Gebirge, die Wasser
fielen her über aHe Leute. Ein Bruder erkannte nicht
mehr seinen Bruder. Die Götter selbst bekamen Furcht
vor der Sturmflut, flohen und stiegen zum Himmels-
berge des Anu hinauf Niedergeduckt wie Hunde
kauerten nun die Götter da. Ischtar schreit wie ein
Weib bei schwerer Geburt, es heult die schöne Stimme
der herrlichen Göttin: ,Das schöne Land der vorigen
5«
Zeit ist zu Schlamm geworden, weil ich in der Ver-
sammlung der Götter den bösen Rat gab! Wie konnte
ich nur so Böses in der Versammlung der Götter be-
fehlen? Wie konnte ich nur all meine Menschen ver-
nichten? Wie das Getümmel der Schlacht rafft die
Flut sie dahin. Ließ ich darum die Menschen erzeugt
und geboren werden, daß sie nun wie die Brut der
Fische das Meer erfüllen!?* Und alle Götter weinen
mit ihr, die Götter sitzen niedergebeugt und weinen.
Die Qual ihres Schmerzes verschließt ihnen die Lippen.
Sechs Tage und sechs Nächte rauschte der Regen
nieder wie Wasserbäche. Am siebenten Tag ließ die
Sturmflut nach; es war eine Stille wie nach der Schlacht.
Das Meer wurde ruhig, und der Sturm des Unheils
ward still. Ich blickte aus nach dem Wetter, da war es
gar stille geworden. Alle Menschen waren zu Schlamm
geworden. Ein ödes Einerlei war der Boden der Erde.
Ich öffnete eine Luke, und das Licht strahlte mir ins
Gesicht. Ich warf mich nieder; ich setze mich hin und
weine, ich weine, und meine Tränen strömen herab
über mein Gesicht. Ich blickte hin auf die weiten
Wasseröden. Laut schrie ich, daß alle Menschen um-
gekommen waren.
Nach zwölf Doppelstunden steigt eine Insel auf Es
trieb das Schiff nach dem Berge Nissir. Das Schiff
lief auf und blieb fest sitzen auf dem Berge Nissir.
Sechs Tage hielt der Berg das Schiff und ließ es nicht
mehr schwanken; als der siebente Tag herbeikam, hielt
ich eine Taube hinaus und ließ sie los. Die Taube flog
fort und kam zurück. Sie fand keine Ruhestätte, so
kehrte sie um. Ich hielt eine Schwalbe hinaus und ließ
sie los. Die Schwalbe flog fort und kam zurück. Sie
53
fand keine Ruhestätte, so kehrte sie um. Ich hielt
einen Raben hinaus und ließ ihn los. Der Rabe flog
fort, sah das Wasser versiegen; er frißt, scharrt, krächzt
und kehrte nicht um. Da ließ ich alle hinaus nach allen
vier Winden und brachte ein Lamm zum Opfer dar,
Opferkörner streute ich aus auf dem Gipfel des Berges,
verbrannte Zedernholz und Myrthe. Die Götter
rochen den Duft; angenehm stieg den Göttern der
Duft in die Nase. Wie Fliegen sammelten sich die
Götter über dem Opfer.
Als die Herrin der Götter herbeikam, hob sie die
großen Edelsteine empor, die der Himmelsgott Anu
ihr zum Schmuck hatte fertigen lassen: ,Ihr Götter
alle! So wahr ich den Edelsteinschmuck meines Halses
niemals vergesse, will ich an diese Tage denken und
sie für alle Zukunft niemals vergessen! Mögen die
Götter alle zum Opfer kommen, Bei soll nicht kom-
men zum Opfer! Ohne zu überlegen hat er die Sturm-
flut herbeigeführt und meine Menschenkinder bestimmt
zum Gericht des Verderbens.* Der große Bei kam her-
bei, er sah das SchiflT, da ergrimmte Bei, wurde zornig
über die Götter: ,Was für ein lebendiges Wesen ist
da entkommen? Kein Mensch sollte leben bleiben bei
meinem Strafgericht!' Ninib, der Streiter unter den
Göttern, tat seinen Mund auf und sprach, er sagt zum
gewaltigen Bei: ,Wer tut außer Ea weise Dinge? Ea
versteht doch jede Sache, ist voller Einsicht!' Ea, der
Gott der Tiefe, tat seinen Mund auf und sprach, er
sagt zum gewaltigen Bei: ,Du Herrschergott, du Ge-
waltiger, wie konntest du nur so unbedachtsam die
Sturmflut erregen? Den, der Sünde tut, laß seine Sünde
tragen! Den, der Frevel verübt, laß seinen Frevel
54
büßen! Doch siehe zu, daß nicht alle vernichtet wer-
den; die Bösen strafe, daß du nicht alle vertilgest!
Anstatt daß du eine Sturmflut erregtest, hätte sich doch
ein Löwe erheben und die Menschen vermindern
können. Anstatt daß du eine Sturmflut brachtest, hät-
test du. sonst ein Untier schicken und die Menschen
vermindern können. Anstatt der Weltflut hätte eine
Hungersnot kommen und das Land demütigen können.
Ich, ich habe nicht das Geheimnis der großen Götter
verraten; den „Sehr-Klugen" ließ ich Traumbilder
sehen, und so erriet er der Götter geheimen Plan. Nun
habt ihr das Nachsehen!'
Ea stieg hinein in das Schiflf, nahm meine Hände,
führte mich und mein Weib aufs Land und ließ mein
Weib niederknien an meiner Seite, trat in die Mitte
vor uns hin, legte die Hände auf uns und segnete uns:
,Bisher war Utnapischtim ein sterblicher Mensch; jetzt
soll Utnapischtim und sein Weib uns gleich sein, und
Utnapischtim soll in der Ferne wohnen, am Meere, da
wo die Ströme münden.* Also entrückten die Götter
mich und ließen mich fern an der Mündung der Ströme
wohnen.
Nun aber, wer von den Göttern wird sich deiner
erbarmen, dich zu den Göttern versammeln, daß du
das Leben findest, das du suchst? Versuche doch
einmal nicht zu schlafen, sechs Tage und sechs
Nächte!"
Kaum hat sich Gilgamesch hingesetzt, da weht em
Schlaf ihn an wie ein starker Wind. Utnapischtim sagt
zu ihr, zu dem Weibe:
„Sieh doch den Starken, der das Leben verlangte,
der Schlaf weht ihn an wie ein Wind!"
55
Sein Weib spricht zu ihm, zu Utnapischtim, dem
Fernen:
„Rühre ihn an, damit er wach sei! Laß ihn auf dem
Wege, den er geivommen, gesund zurückgelangen,
durch das Tor, durch das er hinausgegangen, möge er
wieder heimkehren in sein Land!"
Utnapischtim sagt zu ihr, zu dem Weibe:
„Ach, du hast Mitleid mit dem Menschen! Backe
Brote für ihn und lege sie hin zu seinem Haupte!"
Als er nun an der Wand des Schiffes schlafend nie-
dersank, buk sie Brote für ihn und legte sie hin zu
seinem Haupte. An die Wand des Schiffes gelehnt lag
Gilgamesch da, Utnapischtim sprach zu ihm, dem
Schlafenden:
„Von einem Brot ist der Teig gemengt.
Ein zweites Brot ist geknetet,
Ein drittes Brot ist angefeuchtet.
Ein viertes ist mit Mehl bestäubt und in den Ofen
geschoben,
Ein fünftes Brot ist braun geworden.
Ein sechstes ist beinah . . . ."
da rührt er ihn plötzlich an, und es erwacht der fremde
Mensch. Gilgamesch sagt zu ihm, zu Utnapischtim,
dem Fernen:
„In der Ermattung ward ich vom Schlafe überwäl-
tigt, wie ein Starker kam der Schiaf über mich. Schnell
rührtest du mich an und wecktest mich auf."
Utnapischtim sagte zu ihm:
„Sechs Brote waren gebacken, da schliefst du schon
fest; die Brote sollten dich wach erhalten."
Gilgamesch sagt zu ihm, zu Utnapischtim, dem
Fernen:
56
„Was soll ich nun tun, Utnapischtim? Wohin soll
ich mich wenden? Der Schlaf hat mich gepackt wie
ein Räuber; in meinem Schlaf sitzt der Tod. In meinem
Gemach und wo ich auch weile, sitzt er, der Tod!"
Utnapischtim sprach zu Ur-Schanabi, dem Schiffer:
„Ur-Schanabi, mein Ufer soll dich Rirder nicht sehen,
die Stelle der Überfahrt soll dich nicht mehr hinüber-
lassen! Keinen sterblichen Menschen sollst du mir
wieder übersetzen, wenn er auch lechzt nach meinen
Gefilden! - Ein schmutziges Kleid hat der Mensch,
den du hierher führtest, am Leibe. Die Felle der Tiere
haben dem Leibe die Schönheit genommen. Geleite
ihn, Ur-Schanabi, zur Badestelle, er wasche sich rein in
den Wassern, er werfe ab seine Felle, daß sie das Meer
davontrage! Schön soll wieder sein Leib erscheinen!
Eine neue Binde erhalte sein Haupt, ein Prachtgewand
bekleide den Leib, das seine Blößen bedecke. Bis er
wieder zu seiner Stadt kommt, bis er heimkehrt auf
seinem Wege, soll dies Gewand nicht schleißen, neu
soll es sein alle Tage!"
Da nahm Ur-Schanabi ihn mit und führte ihn hin
zu dem Badeplatz; er wusch sich rein in den Wassern,
warf seine Felle fort, daß sie das Meer davontrug. In
neuer Schönheit strahlte sein Leib. Eine neue Binde
ward um das Haupt geschlungen, mit einem Prachtge-
wande ward er bekleidet, das seine Blößen bedeckte.
Bis er wieder zu seiner Stadt hinkäme, bis er heimge-
kehrt sei auf seinem Wege, sollte dieses Gewand nicht
schleißen, neu sollte es bleiben alle Tage!
Gilgamesch und Ur-Schanabi bestiegen das Schiff,
sie brachten es auf die Flut; schon fuhren sie ab. Da
sagt sein Weib zu ihm, zu Utnapischtim, dem Fernen:
57
„Gilgamesch ist gegangen, er hat sich abgemüht und
viele Qualen erduldet. Was willst du ihm geben, daß
er glücklich zur Heimat gelange?"
Gilgamesch hört das Wort, ergreift die Schiffstange
und stößt das Boot wieder näher ans Ufer. Utnapisch-
tim spricht zu ihm, zu dem Gilgamesch :
„Gilgamesch, du bist gegangen, du hast dich abge-
müht und viele Qualen erduldet. Was soll ich dir
geben, daß du glücklich zur Heimat gelangst? - Ich
will dir ein Geheimnis verraten, von einem verborgenen
Wunderkraut will ich dir Kunde geben. Das Kraut
sieht aus wie ein Stech dorn und wächst tief unten im
Meere, sein Dorn ist wie eine Stachel des Stachel-
schweins, es blüht im fernen Süßwassermeer. Wenn
du dies Kraut in deine Hände bekommst und davon
ißt, so wirst du ewige Jugend und Leben finden."
Gilgamesch vernahm seine Worte. Und sie fuhren
weit hinweg über das Meer.
Sie waren ins ferne Süßwassermeer gekommen. Da
löste er seinen Gürtel, warf das Oberkleid ab, schwere
Steine band er an seine Füße. Die zogen ihn tief ins
Weltmeer hinab, da sah er ein Kraut gleich einem
Stechdorn. Er, er nahm das Kraut und hielt es fest in
der Hand, schnitt ab die schweren Steine und tauchte
auf bei dem Schiffe. Er stieg zur Seite des Schiffers
ins Boot und hielt die Wunderblume des Meeres in
Händen.
Gilgamesch spricht zu Ur-Schanabi, dem Schiffer:
„Ur-Schanabi, hier hab ich das Kraut! Es ist ein
Kraut, das Leben verheißt! Des Menschen heißes Be-
gehren wird nun erfüllt, die Vollkraft der Jugend wird
ihm erhalten. Ich will es nach meinem festummauerten
58
Uruk bringen, ich will alle Helden essen lassen davon,
unter viele will ich es teilen. Der Name der Pflanze
ist ,Als Greis wird der Mensch wieder jung*. Ich, ich
will davon essen und zur vollen Kraft meiner Jugend
wieder gelangen.**
Zwanzig Doppelstunden fuhren sie weiter und sahen
ein Stückchen Land. Nach dreißig Stunden landeten
sie und machten Rast. Gilgamesch sah einen Teich,
kühl und erfrischend w^ar sein Wasser; er stieg hinein
und badete in der schönen Kühle. Es roch eine
Schlange den Duft des Krautes; sie schlich sich heran
und nahm das Kraut. - Er kommt wieder und stößt
einen Fluch aus. Und Gilgamesch setzt sich nieder
und weint, über sein Antlitz rinnen die Tränen nieder.
Er sieht in die Augen des Ur-Schanabi, des Schiffers:
„Für wen, Ur-Schanabi, haben sich abgemüht meine
Arme? Für wen lasse ich das Blut meines Herzens kreisen
und rinnen? Ich wirkte und nicht für mich selbst kam
Gutes heraus, für den kriechenden Wurm der Erde
habe ich Gutes getan! Das Kraut hat mich auf dem
Meere geleitet; wir wollen nun die Meeresflut und die
Ströme meiden, das Schiif mag liegen bleiben am Ufer.**
Zwanzig Doppelstunden zogen sie weiterund sahen
ein Stückchen vom Tempelturme. Nach dreißig Dop-
pelstunden machten sie Rast und hoben die Augen
auf zu der Stadt mit dem heiligen Tempel. Sie kamen
hinein nach Uruk, in die Stadt mit den hohen Mauern.
Gilgamesch sagt zu ihm, zu Ur-Schanabi, dem Schiffer:
„Steige hinauf auf die Mauer, Ur-Schanabi! Geh
einher auf der Mauer von Uruk, der stark umfriedigten
Stadt! Siehe, wie fest sie gegründet ist, hoch aufge-
schüttet der Tempelberg, sieh die gewaltigen Bau-
59
werke an, aus Ziegelsteinen sind sie errichtet, und alle
die Ziegel wurden gebrannt! Die sieben klugen Mei-
ster, meine Berater, legten die Pläne mir hin. - Ein
Grundstück im Gebiete der Stadt, ein Gartenland, ein
Frauengemach soll dir gehören, in Uruk sollst du dein
Haus dir bauen!"
Die zwölfte Tafel
Gilgamesch waltet in Uruk, der Stadt mit den hohen
Mauern. Seine Ruhe findet er nicht. Er läßt die
Zauberpriester und Totenbeschwörer kommen:
„Beschwöret Enkidus Geist herauf! Sagt mir, wie
ich Enkidus Schatten erblicken kann! Ich will ihn nach
dem Schicksal der Toten fragen !"
Der Älteste unter den Priestern sprach:
„Gilgamesch, wenn du zur Unterwelt steigen willst,
zu der Behausung des großen Gottes der Toten, so
mußt du im schmutzigen Kleide kommen. Mit feinem
Öl darfst du dich nicht salben, sonst werden, von sei-
nem Dufte gelockt, dich unerwünschte Geister um-
schwirren. Den Bogen darfst du nicht zur Erde setzen,
sonst werden dich alle umringen, die von dir zu Tode
getroffen wurden. Das Zepter darfst du nicht in der
Hand behalten, sonst werden die Totengeister alle
verscheucht. Schuhe darfst du nicht an den Füßen
haben, nur ganz leise darfst du gehen. Dein Weib, das
du liebst, darfst du nicht küssen, dein Weib, das du
nicht magst, darfst du nicht schlagen. Dein Kind, das
du Hebst, darfst du nicht herzen, dein Kind, das du
nicht magst, darfst du nicht strafen, sonst wird dich der
Jammer der Leute unter der Erde stören."
60
Gilgamesch wandert zur großen Wüste, zu den
Pforten der Unterwelt. Er kommt an die düstere
Wohnung Irkallas: zu der Behausung lenkt er die
Schritte, da nicht hinauskommt, wer einmal hineinging;
den Weg ging er, den Weg ohne Umkehr, zu der
Behausung, deren Bewohner das Licht entbehren. Erd-
staub ist ihre Nahrung, Lehm ihre Speise. Sie sehen
kein Licht und sitzen in Finsternis. Mit Federn sind
sie bekleidet und tragen Flügel wie Vögel.
Er pocht ans Tor und spricht zum Pförtner die Worte:
„Heda! Pförtner, öffne dein Tor, daß ich eintreten
kann ! Wenn du dein Tor nicht auftust, zerschmeiß ich
die Tür, zerbrech ich die Riegel!"
Der Pförtner öffnete ihm das erste Tor und nahm
ihm den Mantel ab, durch sieben Tore führte er ihn,
nahm alle Kleider ihm ab, daß er nackend das Reich
der Toten betrete. Er trat vor die große Göttin Eresch-
kigal und sprach:
„Laß Enkidu, meinen Freund, zu mir kommen, daß
ich ihn nach dem Geschicke der Toten frage!"
Doch der Aufpasser und Zuriegler der Göttin hielt
den Toten fest, die Göttin ließ ihn nicht los. Die hehre
Ereschkigal sprach zu Gilgamesch also:
„Kehre wieder zurück! Du kannst den Toten nicht
sehen. Es hat dich keiner hierher gerufen." -
Traurig stieg er hinauf, nahm seine Kleider und
schritt durch die sieben Tore. Er kam an ein tiefes
Wasser und flehte zu Ea, dem weisen Gotte der Tiefe:
„Sende mir Enkidus Schatten herauf! Die Unter-
welt hält ihn fest."
Der Vater der Tiefe hörte sein Wort und sprach
zum gewaltigen Nergal, dem Herrscher der Toten:
6i
„öffne sogleich ein Loch in der Erde! Führe Enki-
dus Geist herauf, daß er zu seinem Bruder Gilgamcsch
rede!"
Als der gewaltige Nergal dies hörte , öffnete er so-
gleich ein Loch in der Erde und führte Enkidus Schat-
ten herauf Sie erkannten sich beide und blieben ein-
ander ferne. Sie redeten miteinander. Gilgamesch rief,
und Antwort bebte der Schatten; Gilgamesch tat seinen
Mund auf und sprach:
„Rede, mein Freund! Rede, mein Freund! Das Ge-
setz der Erde, die du sahst, verkünde mir jetzt!"
„Ich kann es dir nicht sagen, Freund, ich kann es dir
nicht sagen. Künde ich dir das Gesetz der Erde, die
ich schaute, so wirst du dich hinsetzen und weinen."
„So will ich mich hinsetzen alle Tage und weinen!"
„Siehe, den Freund, den du anfaßtest, daß dein Herz
sich freute, den fressen die Würmer gleichwie ein altes
Gewand. Enkidu, der Freund, den deine Hand berührte,
ist wie die Lehmerde worden, er ist voll Erdstaub, in
den Staub sank er hin, zu Staub ist er worden."
Gilgamesch wollte noch weiter fragen, da verschwand
der Schatten Enkidus.
Gilgamesch kehrte zurück nach Uruk, der Stadt mit
den hohen Mauern. Hoch erhebt sich der Tempel
des heiligen Berges.
Gilgamesch legte sich nieder zu schlafen, und ihn
packte der Tod in der schimmernden Halle seines
Palastes,
63
Nachwort
Der Stoff des sogenannten Gilgamesch-Epos ist nur
in Keilschriftbruchstücken erhalten; sie fanden
sich zumeist bei den Ausgrabungen in Kujundschik,
dem einstigen Ninive, als Bestandteil einer großartigen
Tontafelbibliothek des Assyrerkönigs Assurbanipal.
Der Kern der Sage ist uralt. Von Assyriologen wurden
die Fragmente entziffert und philologisch getreu um-
geschrieben und übersetzt. Wer ein wissenschaftliches
Interesse an dem Stoffe hat, sei auf die grundlegenden
Werke von P.Jensen (Assyrisch-babylonische Mythen
und Epen, Berlin 1900, und Das Gilgamesch-Epos,
Stra{3burg 1906), ferner auf die neuere Übersetzung
von A. Ungnad mit den Erklärungen von H. Greß-
mann (Göttingen 191 1) hingewiesen. Diese verdienst-
lichen Bücher müssen aber regelrecht studiert und
können nicht einfach gelesen oder gar vorgelesen wer-
den; denn sobald der Faden der Erzählung spannend
wird, heißt es gewöhnlich „große Lücke", abgesehen
von all den kleinen Lücken, die nur sehr mittelbar eine
Freude am Ganzen aufkommen lassen, jedenfalls den
einheitlichen Zusammenhang zerstören. Das Ganze
aber ist zu ahnen.
Es mag bedauert werden, daß diese Dichtung, die in
ihrer grandiosen Einfachheit zu den bedeutendsten
Werken der Weltliteratur gerechnet werden darf, den
nicht-zünftigen Gebildeten so wenig bekannt ist. Der
Gilgamesch wird auch erst eingeschätzt und gewürdigt
werden, wenn der historische Stoff, wie Nietzsche sich
ausdrückt, im monumentalen Sinne gebraucht wird,
d. h. mit größter Freiheit der Phantasie zu einer ein-
63
heitlichen Form umgeschmiedet ist. So geht die hier
versuchte Gestaltung zu einem Ganzen von einem rein
künstlerischen Interesse am Stoffe aus. Wer sich histo-
risch und antiquarisch mit dem Gilgamesch beschäf-
tigen will, der greife lieber zu den oben genannten
Büchern.
Was die Sprache angeht, die ich in diesem Gilga-
mesch gesprochen habe, so ist nach Möglichkeit der
aus der Luther-Bibel bekannte Rhythmus des Parallelis-
mus der Glieder beibehalten, ohne jedoch der Eigen-
art einer deutschen „Umdichtung" Gewalt anzutun.
(Der starke Wechsel der sog. Tempora ist mit Absicht
beibehalten worden.) Daß ich mich in altorientalische
Sprache und Kultur „eingefühlt" habe, wird dem Kun-
digen nicht entgehen. Wer das wortgetreue Gilga-
mesch-Epos kennen lernen will, dem ist auch durch
eine Übersetzung der Bruchstücke nicht geholfen.
Jede Verdeutschung macht schon aus dem Original ein
neues Werk.
Für alle Menschen, die unbefangene Freude an dem
alten und ewig jungen Spiel der Phantasie haben, ist
diese Erzählung geschrieben. In Werken der Phan-
tasie nur ist Erlösung vom Leiden.
Burckhardt.
Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig
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REMOVE
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